In Martin Schulz könnte erstmals in der Geschichte der Europäischen Union ein Deutscher an die Spitze der EU-Kommission treten – wenn es gut läuft für die Sozialdemokraten bei der Europawahl im Mai. Vieles spricht für Schulz, denn schon qua Geburt ist er ein Europäer.
Wenn es so kommt, wie sich das viele in der deutschen SPD wünschen, dann bekleidet demnächst ein Fan des 1. FC Köln einen der wichtigsten Posten in der Europäischen Union. Aus seiner Leidenschaft für den Fussball-Klub hat Martin Schulz nie einen Hehl gemacht. Und genau dieser Mann ist eben nicht nur der sozialdemokratische Spitzenkandidat für die Europawahl und potenziell auch der nächste Präsident der mächtigen EU-Kommission. Der 58-Jährige ist auch fussballbegeistert – so wie er die europäische Idee nicht nur vor sich herträgt, sondern sich für sie begeistert, ja mehr noch: sie verkörpert. Und das seit dem Moment, in dem er das Licht der Welt erblickte.
Auch politisch ist Schulz schon seit mindestens 20 Jahren ein Europäer. Während Politiker in der Regel erst im Inland Karriere machen und dann vielleicht irgendwann den Sprung auf die europäische Ebene wagen – manche dorthin auch abgeschoben werden – verlief der politische Werdegang von Martin Schulz in weiten Teilen genau anders herum. Seit 1994 ist Schulz schon Mitglied des Europäischen Parlamentes in Strassburg, seit 2012 dessen Präsident. Und in dieser Funktion ist er im Laufe der Jahre immer wichtiger für die Sozialdemokraten in ganz Europa und vor allem auch für die Genossen in Deutschland geworden. Zwar war er schon drei Jahre vor seinem Einzug ins Europaparlament Mitglied des Parteirates der SPD. Doch viele andere wichtige Parteiämter folgten für den Mann, der 1974 in die SPD eingetreten war, erst nach 1994: Mitglied des SPD-Bundesvorstands ist er zum Beispiel erst seit 1999, Mitglied des SPD-Präsidiums seit 2005.
Vor seiner politischen Karriere war der Vater zweier Kinder Buchhändler. Neben Europa und dem Fussball begeistert er sich von Kindes Beinen an schon für das gedruckte Wort. Eines seiner Lieblingsbücher ist nach seinen eigenen Angaben "Der Leopard" von Tomasi di Lampedusa. Zudem, sagt er, schätze er alle Werke des britischen Historikers Eric Hobsbawm. Zwischen 1975 und 1977 lernte Schulz das Buchhändler-Handwerk, indem er eine Lehre machte. Später arbeitete er in verschiedenen Buchhandlungen und Verlagen, ehe er 1982 eine eigene Buchhandlung gründete, die er bis zu seinem Wechsel ins Europaparlament führte.
Berlusconi und der Nazi-Vergleich
Während Schulz, der mit einer Garten- und Landschaftsarchitektin verheiratet ist, bislang noch nie durch private Skandale aufgefallen ist, wurde er 2003 einer grossen deutschen Öffentlichkeit schlagartig bekannt, weil ihm eine mehr als zweifelhafte Ehre zu Teil wurde: Silvio Berlusconi, Italiens für private ebenso wie politische Skandale bestens bekannter Ex-Ministerpräsident verglich Schulz im Europäischen Parlament mit einem Aufseher in einem Konzentrationslager. "Herr Schulz, ich weiss, dass es in Italien einen Produzenten gibt, der einen Film über Nazi-Konzentrationslager dreht. Ich werde Sie für die Rolle des Kapo empfehlen. Sie sind perfekt!", hatte Berlusconi damals gesagt. Schulz hatte zuvor kritisiert, der Italiener könne nicht gleichzeitig an der Spitze einer Regierung und eines riesigen Medienimperiums stehen. Dabei werde es sicher zu Interessenkonflikten kommen.
Dass Schulz damals zwar empört, aber alles in allem doch ruhig auf die Vorwürfe Berlusconi reagiert hatte, weist auf seine vielleicht grösste politische Schwäche hin, die zu seinem vielleicht bedeutsamsten Hindernis im Wahlkampf werden könnte. Denn Schulz kann einerseits – auch ohne Sprechzettel – Reden voller Emotionen halten kann. Sein Leitmotiv dabei: Europa, das ist nicht mehr Regeln, mehr Bürokratie, mehr Vorschriften. Europa, das ist vor allem "die Antwort auf den Irrsinn des Krieges unter Nachbarn". Andererseits kann er nicht wirklich polarisieren, nicht wirklich zuspitzen. Komplizierte Sachverhalte in leicht verständliche Sätze packen, vor allem, wenn er improvisieren muss; einen politischen Gegner auch mal mit harten Tönen angehen – das ist nicht unbedingt sein Metier.
Schulz oder Juncker?
Allerdings: Jean-Claude Juncker, der Spitzenkandidat der Konservativen im Europawahlkampf und ehemalige luxemburgische Ministerpräsident, ist ein ähnlich ausgleichender Politiker wie Schulz. Und er ist ein ebenso überzeugter und glaubwürdiger Europäer wie der Deutsche, spricht ähnlich viele Sprachen, hat ebenso viel Erfahrung im Umgang mit den europäischen Institutionen. Dieses Kaum-Unterscheiden-Können könnte für Schulz das wirklich grösste Problem im laufenden Europa-Wahlkampf sein.
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