Osteuropa-Experte Andreas Umland hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Ukraine beobachtet. Im Interview mit unserer Redaktion kritisiert er die OSZE, analysiert, woher der Frust der Ukrainer auf ihren amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko kommt und erklärt, wieso ein Schauspieler für Russlands Präsident Wladimir Putin zum Problem werden könnte.

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Die erste Wahlrunde in der Ukraine hat der Newcomer Wladimir Selenski mit rund 30 Prozent der Wählerstimmen gewonnen. Am 21. April wird er in einer Stichwahl auf den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko treffen. Wie war die Stimmung in Kiew nach der ersten Wahlrunde?

Andreas Umland: Viele Ukrainer sind von dem Ergebnis überrascht worden, insbesondere von dem Abstand zu Poroschenko, mit dem Selenski in die Stichwahl geht. Das Publikum ist geteilt in euphorische Unterstützer Selenskis und deprimierte Anhänger Poroschenkos, weil es danach aussieht, dass sich der Vorsprung zu einem Sieg in der Stichwahl entwickeln wird. Vorausgesetzt, es gibt keine grösseren Skandale.

Der amtierende Präsident Petro Poroschenko wurde mit 18 Prozent regelrecht abgestraft. Dabei ist seine Bilanz nicht so schlecht. Er ist die Reform des Bildungssektors und der Gesundheitspolitik angegangen, zudem gelingt der Ukraine trotz des Krieges im Osten des Landes ein leichtes Wirtschaftswachstum. Warum nun dieses Ergebnis?

Das Ergebnis ist eine Reaktion auf die generelle Fehlentwicklung in den letzten 30 Jahren, wie sie von vielen Menschen im Land wahrgenommen wird. Fast immer waren die Präsidenten der Ukraine Mitglieder der politischen Elite, auch Poroschenko gehörte dazu. Heute ist das Land eines der ärmsten Europas, gerechnet auf die Bevölkerung.

Poroschenko wurde als Präsident wahrgenommen, der bestenfalls teilweise die Versprechen des Euromaidan (Anm. d. Red: Bürgerproteste gegen die Regierung im Jahr 2013) und den Kampf gegen die Korruption vorangetrieben hat. Zudem hat er die Reformen in einer Art durchgeführt, die viele als antisozial empfunden haben. Während seiner Amtszeit stiegen die Preise für Kommunalgebühren, Gas, Energie und Wasser. In gewisser Hinsicht zahlt er damit den Preis, den frühe Reformer oftmals für unpopuläre Vorhaben zahlen.

Selenski, der Gewinner der ersten Wahlrunde, ist von Beruf Schauspieler und wurde insbesondere für seine Rolle als TV-Präsident in einer Serie, die House of Cards ähnelt, bekannt. Reicht eine solide Fernsehpräsenz, um sich in der Ukraine als Präsident zu empfehlen?

Die Ukrainer standen vor der prinzipiellen Frage, ob sie, wie bei allen früheren Wahlen, jemanden aus dem alten System zum Präsidenten machen oder jemanden wählen, der bislang kein Politiker war. Die einzige Alternative war Selenski. Hätte es einen anderen Kandidaten ausserhalb der politischen Elite gegeben, mit ausreichender Bekanntheit, wäre ähnliches passiert.

Was hat Selenski mit der Ukraine vor?

Selenski ist bis zum heutigen Tag nicht programmatisch und ideologisch vorbereitet. Es zeichnet sich jedoch ab, dass er für eine unabhängige, prowestliche und proeuropäische Ukraine steht. In seiner Umgebung gibt es nur einzelne Denker, die bekannt sind und ihm programmatisch etwas zuliefern können.

Ob seiner Herkunft ist Selenski aber sicherlich eine besondere Figur, weil er als russischsprachiger Ukrainer, der aus dem Südosten des Landes stammt, eigentlich nicht für einen prowestlichen Kurs prädestiniert wäre.

Oftmals wird Ihor Kolomojskyj, Oligarch und Inhaber des TV-Senders für den Selenski arbeitet, als einflussreicher Mann hinter Selenski gewertet. In dem Fall wäre auch Selenski ein Kandidat der politischen Elite.

Kolomojskyj hat sich bislang nicht politisch profiliert. Als 2014 der Krieg mit Russland begann, stand er entschieden für die Verteidigung des Staates gegen den Separatismus ein und gegen eine Intervention Russlands. Die Ukrainer rechnen ihm hoch an, dass er als Gouverneur von Oblast Dnipropetrowsk seine Region vor einer Übernahme durch die Separatisten bewahrt hat.

Er ist sicherlich ein Patriot, lässt sich aber nicht in die Kategorien prowestlich oder antirussisch einteilen. Ich bezweifle aber, dass die Verbindung zu Selenski tatsächlich so eng ist, wie behauptet wird. Dass Selenski ein Phänomen ist, das sich nur auf einen einflussreichen Oligarchen reduzieren lässt, glaube ich nicht.

Russlands Präsident Wladimir Putin, der seit Jahren das Ziel verfolgt, die Ukraine zu destabilisieren, wird sich über einen politisch unerfahrenen Präsidenten in der Ukraine die Hände reiben, oder?

Die Ukraine hat im Konflikt mit Russland einen sehr begrenzten Handlungskorridor und ist schon heute von den Interessen Moskaus abhängig. Wenn sich etwas ändern kann, dann nur durch Aktionen des Westens, der den nötigen Einfluss hätte. Die Wahl Selenskis könnte für Putin sogar zum Problem werden.

Denn das Narrativ des Kremls, dass die Ukraine der Erzfeind Russlands ist, liesse sich mit dem in Russland populären Selenski nur schwer bedienen. Der günstigere Kandidat wäre eher Poroschenko, der ein schlechtes Image in Russland hat und der es dem Kreml leicht machen würde, das Bild einer russophoben Ukraine weiter zu nähren.

Gibt es Menschen, die Selenski nahestehen und Rückschlüsse auf seine Positionen zulassen?

Es gibt eine ermutigende Allianz zwischen Selenski und zwei früheren ukrainischen Ministern, darunter Aivaras Abromavičius. Er stammt aus Litauen und wurde nach dem Euromaidan Wirtschaftsminister der Ukraine. Seine Beziehung zu Selenski deutet darauf hin, dass es Selenski mit seiner prowestlichen Orientierung ernst meint.

Die Bundesregierung hat bis heute nur rudimentäre Gesprächsfäden ins Weisse Haus, weil sie 2016 nicht mit der Wahl von US-Präsident Donald Trump rechnete und entsprechende Kontakte erst spät knüpfte. Hat sie diesen Fehler mit Selenski wiederholt?

Selenski ist für alle in- und ausserhalb der Ukraine eine grosse Überraschung und eine schwer einzuschätzende Variable, weil er keine politische Biografie hat. Auf diplomatischer Ebene war es deshalb nicht möglich, Kontakt zu Selenski aufzunehmen. Die meisten Regierungen werden deshalb die Wahlen am 21. April abwarten.

Es ist aber sicherlich als positiv zu bewerten, dass Selenski gut englisch spricht. Später wird er, der seine Erfahrungen auf der politischen Bühne erst sammeln muss, aber sicherlich anders zu behandeln sein als Poroschenko, der stets ein gewiefter Verhandlungspartner war.

Welchen Kandidaten bevorzugen die für die Ukraine äusserst wichtigen Investoren?

Tendenziell bevorzugen die Finanzmärkte den amtierenden Präsidenten Poroschenko, weil mit ihm absehbar ist, in welche Richtung sich das Land bewegt. Allerdings gab es auch nach dem ersten Wahlgang keine grösseren Kursschwankungen. Die Hauptfrage wird nun sein, ob die Wahl fair abläuft und ob die Ukraine auch im Nachgang stabil bleibt.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat den Ablauf der Wahlen als fair bewertet. Wieso gibt es dennoch Berichte über Stimmenkäufe und einen unfairen Wahlkampf?

Die positive Einschätzung der OSZE über den Ablauf der Wahlen hat mich verwundert. Zwar konnte man den Wahlkampf nicht mit dem Wahltheater in anderen postsowjetischen Staaten vergleichen, wo der Gewinner schon vor der Wahl feststeht. Besonders sauber lief er aber nicht ab.

Ein Beispiel war die Kandidatur des sogenannten Juri Tymoschenko, also einem Kandidaten mit fast gleichem Namen wie der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko, die ebenfalls zur Wahl stand. Da ging es offenbar darum, die potenziellen Wähler von Poroschenkos wichtigster Konkurrentin zu verwirren. Auffällig war auch die Nutzung von Fernsehkanälen, auf denen Poroschenko über Wochen und Monate Propaganda verbreitet hat.

Es gibt ausserdem viele Spekulationen darüber, inwieweit Wählerstimmen durch sogenannte "Netze", also lokale Netzwerke von käuflichen Wählern, gekauft worden sind. Nachweise gibt es aber bisher nicht.

Kritiker meinen, Poroschenko könnte den Konflikt in der Ostukraine erneut verschärfen, um gestärkt in die Wahlen zu gehen.

Man kann das nicht ausschliessen, sollte den Einfluss der Ukraine aber nicht überbewerten. Die Ukraine hat nicht die Kapazität, den Kriegsverlauf im Donbass oder im Asowschen Meer zu bestimmen. Sie ist eher passiv und Objekt einer Aggression als gleichwertiger Teilnehmer.

Dr. Andreas Umland (52) ist Publizist, Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation Kiev (Ukraine). Er hat Russisch, Geschichte und Politikwissenschaften studiert und unter anderem in Stanford, Cambridge und Harvard geforscht. Seit 2002 lebt Umland in der Ukraine.
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