Grossbritannien und Nordirland haben gewählt, die oppositionelle Labour Party hat einen deutlichen Sieg davongetragen. Das Signal, welches dieses Wahlergebnis sendet, ist aus Sicht von Experte Jared Sonnicksen eindeutig. Was zu der krachenden Niederlage der Konservativen geführt hat und vor welcher Herausforderung die Labour Party nun steht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es war der erwartete Erdrutschsieg: Die oppositionelle Labour Party um Keir Starmer hat die Unterhauswahl in Grossbritannien und Nordirland deutlich gewonnen. Bei den letzten Hochrechnungen lag sie mit 410 von 650 Sitzen deutlich vorne.

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Die konservativen Tories um Premierminister Rishi Sunak scheitern derweil nach 14 Jahren an der Macht krachend: Sie fahren nur noch 144 Sitze ein – bei der letzten Wahl waren es über 200 Sitze mehr. Sunak hat bereits seinen Rücktritt als Parteichef angekündigt. Kurz nach der Wahl sagte er der Presse: "Die Labour-Partei hat diese Parlamentswahl gewonnen und ich habe Sir Keir Starmer angerufen, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren." Die Briten hätten "ein ernüchterndes Urteil" gefällt.

Wunsch nach Wechsel

Auch Politikwissenschaftler Jared Sonnicksen hat die Wahl genau verfolgt: "Der Wunsch nach Wechsel war unübersehbar. Das Ergebnis ist ein deutliches Signal, dass die Konservativen abgewählt worden sind", sagt er. Auch, wenn der klare Sieg für Labour abzusehen gewesen sei, so sei der Vorsprung in der Sitzverteilung doch überraschend.

"Labour hat fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit im House of Commons", sagt Sonnicksen. Dabei dürfe man jedoch nicht vergessen, dass das britische Wahlsystem die absolute Mehrheit verstärke. "Es ist ein The-Winner-Takes-All-System", erklärt Sonnicksen. Den aktuellen Hochrechnungen zufolge kommt Labour auf rund 35 Prozent der Stimmen, das übersetzt sich trotzdem in fast zwei Drittel der Sitze.

Grosse Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Tories

"Der Wahlsieg ist zwar eindeutig, Labour steht in der Gesellschaft aber nicht so gut dar, wie der Sitzanteil vermuten lässt", so der Experte. Für viele dürfte der wichtigste Grund gewesen sein, Labour zu wählen, die Konservativen aus der Regierung zu schmeissen. "Labour steht jetzt ziemlich unter Druck, sich zu beweisen. Das ist eine Herausforderung", sagt Sonnicksen.

Dabei ist die Ausgangslage hinsichtlich der Sitzverteilung für Labour zwar gut, jedoch mangelt es an Geld für dringend nötige Investitionen ins Gesundheits- und Bildungssystem sowie die Infrastruktur. Keir er, der nun Regierungschef werden dürfte, verprach aber laut "tagesschau.de": "Die Menschen haben gesprochen, sie sind bereit für den Wandel. Sie haben abgestimmt und es ist an der Zeit, dass wir liefern."

Auch Sonnicksen erinnert noch einmal daran, dass die Unzufriedenheit im Land zuletzt gross gewesen ist. "Die Leistungsbilanz der Konservativen war in den Augen vieler schlecht. Sie hatten zuletzt selbst eine deutliche Mehrheit und konnten den Brexit vollziehen. Die Verantwortung dafür wurde ihnen aber deshalb auch alleinig zugeschrieben", analysiert der Experte.

Tories haben die Versprechen gebrochen

Keines der grossen Versprechen des Brexits sei eingehalten worden, besonders auf dem Arbeitsmarkt, in puncto Gesundheitssystem und bei der Migration gebe es nach wie vor grosse Probleme. "Grossbritannien steht zumindest nicht besser dar als vor dem Austritt", sagt Sonnicksen. Durch den Brexit hätte man Probleme zuletzt nicht mehr auf die EU schieben können.

Der Labour-Sieg bedeute umgekehrt aber nicht, dass die Mehrheit der Briten zurück in die EU möchte, schlussfolgert der Experte. "Viele machen sich jedoch Hoffnung, dass es nun eine Annäherung gibt. Wie weitreichend sie sein wird, ist unklar." Die Labour Party hatte sich im Wahlkampf bei diesem Thema sehr zurückgehalten.

Seinem Eindruck nach sei das Signal der Wählerinnen und Wähler eher folgendes: "Wir sind jetzt raus aus der EU, der Wunsch nach Normalisierung ist gross. Jetzt müssen wir bei Reformen zu Hause vorankommen." Das passt aus seiner Sicht auch zum Wahlergebnis der "Scottish National Party" (SNP). Die grösste Partei Schottlands hatte sich in den letzten Jahren immer wieder gegen den Brexit ausgesprochen.

Was machen die Schotten?

Beim Brexit-Votum selbst stimmte das Land mehrheitlich für einen Verbleib in der EU – in manchen Landesteilen sogar mit über 80 Prozent. Trotzdem musste Schottland als Teil des Vereinigten Königreichs die EU mitverlassen. "Danach war lange unklar, ob es ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum in Schottland geben wird.

Der Oberste Gerichtshof hat aber inzwischen entschieden, dass Schottland kein Recht hat, ein neues Referendum zu initiieren", sagt Sonnicksen. Hätte die SNP bei den jetzigen Wahlen einen klaren Sieg eingefahren, wären die Karten unter Umständen noch einmal neu gemischt worden.

"Aufgrund der herben Verluste bei der jetzigen Wahl würde ich aber bezweifeln, dass die SNP das Mandat hat, diese Frage noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen", sagt er. Die SNP konnte acht Mandate erringen – bei der Wahl 2019 waren es noch 48 gewesen.

Signal an Rechtspopulisten

Einigermassen zufrieden darf derweil die rechtspopulistische Partei "Reform UK" von Nigel Farage sein. Der Brexit-Vorkämpfer hatte überraschend kandidiert und nun mit seiner Partei aus dem Stand vier Mandate erzielt.

Für Sonnicksen geht trotz dieses Erfolgs ein ganz anderes Signal von der Wahl in Grossbritannien aus, das auch für Wähler hierzulande relevant sein dürfte: "Sozialdemokraten und Mitte-Linksparteien sind noch mehrheitsfähig. Das Regieren muss nicht den Rechtspopulisten überlassen werden. Diesen Punkt sollten wir uns auch aus Deutschland anschauen."

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Jared Sonnicksen lehrt als Politikwissenschaftler an der RWTH Aachen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen vergleichende Politikwissenschaft, die EU, Demokratietheorien und Regierungssysteme.

Verwendete Quellen

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