Im bayerischen Landtag sind künftig sechs Fraktionen vertreten. Warum gelingt es den "Volksparteien" CSU und SPD nicht mehr, grosse Teile der Bevölkerung hinter sich zu bringen? Und welche Folgen hat das für die Politik?

Eine Analyse

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Die Mehrheit der bayerischen Wähler hat sich gegen die beiden Parteien entschieden, die die deutsche Politik seit Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt haben: Zusammen kamen CSU und SPD bei den Landtagswahlen auf knapp 47 Prozent.

Die SPD befinde sich im freien Fall, räumte der frühere Münchner Oberbürgermeister Christian Ude im ZDF ein. Und CSU-Generalsekretär Markus Blume sagte in der ARD: "Das sind keine schönen Zahlen. Sie stellen uns vor allem als Volkspartei CSU nicht zufrieden."

Aber können sich Union und Sozialdemokraten angesichts dieses Ergebnisses überhaupt noch so bezeichnen?

"Volkspartei" nennen sich vor allem die Parteien selbst

In der Politikwissenschaft sei der Begriff schon lange nicht mehr gebräuchlich, sagt Gero Neugebauer, Parteien-Experte und früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Er wird heute vor allem von den Parteien zur Selbstlegitimation benutzt." Der Begriff Volkspartei beschreibt eine politische Gruppierung, die vielen gesellschaftlichen Gruppen gleichzeitig ein Angebot machen und deren Interessen vertreten kann.

Doch schon seit den 80er Jahren sei zweifelhaft, ob das den grösseren Parteien noch gelinge, so Neugebauer.

Die Wahl in Bayern hat besonders deutlich gemacht, dass das nicht mehr der Fall ist. Das gilt vor allem für die SPD, die von einem ohnehin schwachen Ergebnis auf den nun fünften Platz zurückfällt. Aber auch für die CSU, die gerne für sich in Anspruch nimmt, eine der letzten Volksparteien Europas zu sein.

"Parteien reagieren nicht auf gesellschaftlichen Wandel"

In der Ära der Volksparteien wählten die Angehörigen gesellschaftlicher Gruppen in der Regel die gleiche Partei. Inzwischen aber machen auch Katholiken ihr Kreuz bei den Grünen - oder Arbeiter bei der AfD.

"Der gesellschaftliche Wandel wird von den grossen Parteien zwar bemerkt", sagt Neugebauer, "aber sie reagieren nicht darauf". Die Stammwählerschaft bleibe CSU und SPD häufig noch treu - doch darüber hinaus gibt es inzwischen zu viele andere Angebote.

In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft wird es immer schwieriger, verschiedene Themen gleichzeitig zu besetzen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in gleichem Masse anzusprechen.

"Wenn die CSU den Wandel in den Grossstädten nicht zur Kenntnis nimmt, sondern nur auf die ländlichen Gebiete schaut, wo die Menschen zur AfD wechseln - dann wenden sich die Menschen in den Grossstädten eben von ihr ab", so Neugebauer.

Spagat nicht mehr möglich

Der Politikwissenschaftler nennt das Beispiel Migration: Es gibt Wähler, die Flüchtlinge als kulturelle Bereicherung empfinden. Und es gibt solche, die in ihnen eine Bedrohung sehen - sei es ebenfalls aus kulturellen Gründen oder weil sie sich in ihrem sozialen Status bedroht fühlen. Es da allen gleichzeitig recht zu machen, ist für die vermeintlichen Volksparteien kaum noch möglich.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" beschrieb das Dilemma der Christsozialen vor der Wahl so: "Aus der Flüchtlingskrise erwuchs der CSU eine Glaubwürdigkeitskrise. Das war fast unvermeidlich, wenn man als Partei den Anspruch hat, gleichzeitig den ökologisch bewegten Flüchtlingshelfer wie dem nationalkonservativen Stammtischbruder eine Heimstatt zu bieten."

Weniger Stabilität im zersplitterten Parlament?

Auch wenn es die Linkspartei in Bayern nicht geschafft hat: Neben dem Bundestag und vier Landtagen wird das bayerische Maximilianeum nun das sechste deutsche Parlament mit sechs Fraktionen sein. So bunt ging es im bayerischen Landtag noch nie zu.

Vor einer solchen Zersplitterung hatte Ministerpräsident Markus Söder in seiner letzten Regierungserklärung vor der Wahl gewarnt und Stabilität beschworen.

In der Tat macht die neue Situation zumindest die Regierungsbildung schwieriger. Denn der bayerische Ministerpräsident muss laut Verfassung spätestens vier Wochen nach der Wahl vom Landtag gewählt werden. In dieser Zeit muss die CSU also die möglicherweise schwierigen Verhandlungen mit einem Koalitionspartner hinter sich bringen.

Auch deshalb dürfte sie sich so schnell auf die Freien Wähler festgelegt haben: Da die Partei von Hubert Aiwanger inhaltlich viele CSU-Positionen teilt, wird eine Einigung mit ihnen einfacher sein als etwa mit den Grünen.

Auch der Ton im Plenum dürfte mit dem Einzug der AfD schärfer werden - wie es schon im Bundestag der Fall ist. Doch drohen ohne echte Volksparteien wirklich instabile Verhältnisse?

Derzeit sei das noch nicht der Fall, sagt Gero Neugebauer: "Es gibt einen gemeinsamen Rahmen für die Parteien - und das ist der demokratische und soziale Rechtsstaat."

Wirklich in Frage gestellt werde dieser Rahmen eigentlich nur von der AfD, so der Politikwissenschaftler. "Wenn sich aber die anderen Parteien dieses Rahmens bewusst sind, bleibt der Konsens erhalten - und damit auch die politische Stabilität."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Gero Neugebauer, Freie Universität Berlin
  • Bayerisches Landesamt für Statistik: Landtagswahl am 14. Oktober 2018
  • BR.de: Söder mahnt in Regierungserklärung Stabilität an
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung (13. Oktober 2018): Endspiel
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