Mitte März starten offiziell die Präsidentschaftswahlen in Russland. Doch von Wahlen kann gar nicht die Rede sein. Wie frei, geheim, gleich und unmittelbar die Stimmabgabe ist, steht gar nicht erst zur Debatte. Experten sind sich einig: Putins vorgezeichneter Siegeszug ist nicht mehr aufzuhalten.
"Wahlen ohne Auswahl". Angesprochen auf die anstehende Präsidentschaftswahl in Russland ist dieser Satz mit das Erste, das Nikita Gerasimov durch den Kopf schiesst. Ein altes russisches Sprichwort – das so aktuell sei wie eh und je. So umstritten und wenig sagend die offizielle Stimmenverteilung sei, sagt Gerasimov auf Anfrage unserer Redaktion, so aufmerksam werde sie in der ganzen Welt betrachtet.
Gerasimov ist Journalist und Krisenbeobachter. Er kann, was sich gerade in Zeiten des russischen Angriffskrieges viele Menschen wünschen: Er spricht Russisch, kann also auf russische Quellen zurückgreifen, die Medien und die Menschen vor Ort gut einschätzen. Im Alter von sechs Jahren kam er von Russland nach Deutschland. Heute arbeitet er als freier Journalist und als Tutor für das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.
Mitte März starten offiziell die Präsidentschaftswahlen in dem Land, das vor zwei Jahren völkerrechtswidrig in sein Nachbarland, die Ukraine, einmarschiert ist. Und wer gewinnen wird, das ist längst klar: Amtsinhaber, Autokrat, manche sagen Diktator – Wladimir Putin. Der Mann, der das Russland von heute geformt hat. Der aus einer fragilen jelzinischen Demokratie der 1990er-Jahre, die das Land ins Chaos stürzte, eine lupenreine Autokratie gemacht hat. Seit 2000 herrscht
Putin – der Kandidat ohne Konkurrenz
2018 gewann er mit angeblichen 77 Prozent der Stimmen die bis dato letzte Wahl zum Präsidenten – zumindest wollen das offizielle Ergebnisse nahelegen. Wie frei, geheim, gleich und unmittelbar die Stimmabgabe in Russland war und ist, steht gar nicht mehr zur Debatte. Denn auch für diese Wahlen prognostizieren Experten: Putins vorgezeichneter Siegeszug ist nicht mehr aufzuhalten. Mit Konkurrenz muss der 71-jährige Präsident gar nicht erst rechnen.
Eine tatsächliche Opposition steht in Russland nicht zur Wahl. Das sagt auch der Politologe und Russland-Experte Alexander Libman auf Anfrage unserer Redaktion. Zwar gibt es Parteien, die Kandidaten vorschlagen, diese definieren sich laut dem Experten allerdings nicht als Alternative zu Putin.
Diese Kandidaten sind Vertreter jener Parteien, die auch Fraktionen in der Staatsduma, dem russischen Parlament, haben: die Kommunistische Partei, die Liberaldemokratische Partei und die Partei "Neue Menschen". Als ordentliches mediales Gezerre bezeichnet der Journalist Gerasimov die Wahlvorbereitungen. In Summe haben es neben Putin noch drei Kandidaten auf die Wahlliste geschafft: Leonid Sluzkyj der Liberaldemokratischen Partei, Nikolaj Charitonov der Kommunistischen Partei und Vladislav Davankov der Partei "Neue Menschen".
Angebliche Gegner unterstützen Putin
Gerasimov sagt: "Von all diesen Kandidaten sind sowohl Sluzkyj als auch Charitonov treu auf Putin-Linie. Davankov wären liberalere und modernere Töne zuzutrauen, obgleich er wohl kaum Chancen hat, auch nur den einstelligen Prozentbereich zu verlassen."
Laut Libman beteiligen sich die Kommunistische und auch die Liberaldemokratische Partei bereits seit 1996 an sämtlichen Präsidentschaftswahlen Russlands. Die Kommunistische Partei vertrete dabei eine Ideologie, die auf der Mischung der sowjetischen Nostalgie und der nationalistischen Stimmungen basiere, sagt Libman.
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Die Liberaldemokratische Partei sei eine populistische Partei, mit starken nationalistischen Zügen. Diese sogenannten Gegenkandidaten gelten als loyale Unterstützer Putins und des Krieges. Mit der vollumfänglichen Unterstützung der angeblichen militärischen Spezialoperation überbieten sie sich geradezu.
Die Partei "Neue Menschen", sagt Libman, sei eine junge Partei, "die sehr wahrscheinlich vom Kreml geschaffen wurde, um die liberalen Teile der Wählerschaft abzufangen". Und das, obwohl deren ideologische Positionen gerade heute kaum mehr relevant seien. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, so hält diese sich eher bedeckt – vermutlich, um die angesprochene Wählerschaft nicht abzuschrecken.
Ergo: Alle zur Wahl stehenden Parteien unterstützen Putin. Und zwar in vollem Masse.
Opposition systematisch ausgeschaltet
Und doch gab es da jemanden, der wirklich gegen den Präsidenten antreten wollte. Der Putin-Gegner Boris Nadeschdin spricht sich gegen den Krieg in der Ukraine aus, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl war jedoch von der russischen Wahlkommission abgewiesen worden. "Unregelmässigkeiten" bei den 105.000 Unterschriften von Unterstützern soll es gegeben haben.
Diese Entscheidung wollte Nadeschdin anfechten – vergebens. Die Opposition wurde und wird systematisch aus dem Weg geräumt. Wie man es auch mit dem bekanntesten und beliebtesten Politiker, Alexey Nawalny, gemacht hatte – dieser ist erst kürzlich in einem russischen Straflager zu Tode gekommen.
Natürlich, sagt Libman, gäbe es in Russland keinen echten Wahlkampf. "Wahlen in einem autoritären Regime wie Russland haben gar nicht die Funktion, die sie in Demokratien haben." Sie dienten lediglich der Legitimierung des Regimes, und könnten vom Regime benutzt werden, um Information über mögliche Unzufriedenheiten der Bevölkerung zu sammeln.
Wie stark beeinflusst Putin sein Volk?
Sehr stark – das zeigen geleakte Kreml-Papiere, die der "Spiegel" mit vielen weiteren Medien, darunter das ZDF und der österreichische "Standard", ausgewertet haben. Diese sollen detailliert zeigen, wie der Kreml-Chef und seine Gefolgschaft die russische Bevölkerung beeinflussen und lenken. Umgerechnet 1,1 Milliarden Euro wolle man demnach in die Wahlvorbereitung und die Manipulation seiner Bürger investieren. Nationalistisches Gedankengut soll in die Bürger quasi eingeschmolzen werden. Von Informationen, die nicht in Putins Sinn sind, wolle man sie gezielt abschirmen.
Filme und Fernsehserien, die den glorreichen Putin und sein mindestens genauso glorreiches Land zelebrieren, laufen im Staatsfernsehen in Dauerschleife. "Dialogzentren" in von Russland besetzten Gebieten der Ukraine sollen die "neue Bevölkerung" einfangen – ein Informationskrieg, wie es in den Kreml-Papieren wohl auch heisst.
Nur auf Telegram, sagt der russisch-stämmige Journalist Gerasimov, gebe es alternative Stimmen. Diese erreichten aber die ältere und deutlich aktivere Wählerschaft kaum. Daher reiche dies bei Weitem nicht aus, um auch nur den Anschein einer echten Wahl zu erwecken. "Wer für Putin ist, wird Putin wählen. Wer gegen Putin ist, wird nicht die Gegenkandidaten wählen."
Eine Wahlmanipulation sei überhaupt nicht vonnöten, sagt Gerasimov. Entscheidender wäre die Wahlbeteiligung. Und tatsächlich: Der Kreml bemüht sich aktiv um eine hohe Wahlbeteiligung. Das geht aus einem Bericht der Oppositionszeitung "Meduza" hervor. Demnach sorge sich die russische Präsidialverwaltung, weil die angestrebte Wahlbeteiligung von 70 bis 80 Prozent schwer zu erreichen sei. Die Menschen hätten das Gefühl, dass die Wahl bereits entschieden ist. Der Sieg Putins sei bereits akzeptiert – warum also noch wählen gehen?
Nun muss der Kreml natürlich handeln, um den Anschein einer legitimen Wahl beizubehalten. Um eine passende Wahlbeteiligung zu erreichen, will man die mit der russischen Regierung verbundene Wählerschaft mobilisieren – vor allem Mitarbeiter des öffentlichen Sektors, staatlicher Unternehmen und regierungstreuer Firmen. Die Mitarbeiter der Putin-Partei "Einiges Russland" wurden verpflichtet, mindestens zehn Personen in die Wahllokale zu schleifen.
Eine Wahl ohne Auswahl also.
Verwendete Quellen:
- Institute für the study of war: Russian Offensive Campaign Assessment
- Spiegel: Putins Drehbuch für die Wahl
- Meduza: Meduza
- Tagesschau: Gericht urteilt erneut gegen Kandidatur Nadeschdins
Über die Gesprächspartner
- Nikita Gerasimov ist freier Journalist und Konfliktbeobachter. An der Freien Universität Berlin ist er zudem als Tutor des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin tätig.
- Alexander Libman ist Professor für russische und osteuropäische Politik an der Freien Universität Berlin. Zuvor war er unter anderem Professor für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit Stiftung Wissenschaft und Politik.
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