Die Schweiz ebnet den Weg zur Präimplantationsdiagnostik. Im Reagenzglas gezeugte Embryonen dürfen künftig vor der Einpflanzung in den Mutterleib untersucht werden. Die Stimmbevölkerung hat die Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes mit 62,4 Prozent Ja-Stimmen angenommen.
Bis im Juni 2015 war die Schweiz das einzige europäische Land, in dem die Präimplantationsdiagnostik (PID) verboten war. Aber vor einem Jahr hat das Stimmvolk eine Verfassungsänderung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) angenommen. Danach haben christlich-konservative Kreise und Kritiker der Gentechnik das Referendum gegen das Fortpflanzungsmedizingesetz (FmedG) ergriffen, das den Rahmen für genetische Untersuchungen an Embryonen absteckt und das vom Parlament verabschiedet wurde. Nun hat eine deutliche Mehrheit des Stimmvolks das Gesetz angenommen und das Ja zu bestimmten genetischen Untersuchungen an Embryonen bekräftigt.
Menschen sollen vielfältig bleiben
Für Gesundheitsminister Alain Berset ist der Ausgang der Abstimmung ein deutliches Signal. Nach einer Diskussion von mehr als zehn Jahren seien nun Voraussetzungen geschaffen für eine klare Umsetzung.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) eröffne Paaren eine neue Möglichkeit, sagte Berset vor den Bundeshausmedien. Diese seien aber frei, zu entscheiden, ob sie davon Gebrauch machen wollten.
Im Abstimmungskampf war die Befürchtung laut geworden, Behinderte und Eltern behinderter Kinder könnten wegen der Zulassung der Tests an Embryonen unter Druck geraten. Das glaubt Berset nicht. "Die Menschen sind vielfältig und sollen es auch bleiben", sagte er. Dem Bundesrat sei es ein Anliegen, die Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
Berset rechnet damit, dass pro Jahr 500 bis 1000 Paare von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen werden. Insgesamt stehen die Tests an im Reagenzglas gezeugten Embryonen schätzungsweise 6000 Paaren offen.
Gegner fordern strenge Kontrollen
19 sozial engagierte Organisationen, darunter zahlreiche Behindertenorganisationen, die klare Schranken für die Anwendung der PID gefordert hatten, bedauern das Abstimmungsresultat. Laut insieme, der Dachorganisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung, ist es aber als positiv zu bewerten, dass eine breite gesellschaftliche Diskussion über die ethischen Fragen und die Auswirkungen der Technologie angestossen worden sei.
"Im Abstimmungskampf wurde von den Befürwortern des revidierten Gesetzes oft bekräftigt, dass die PID nicht zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen führen werde. Wir erwarten, dass diesen Aussagen auch Taten folgen", sagt insieme-Sprecherin Christa Schönbächler.
"Es wird schwierig sein, bei der Anwendung der PID Missbrauch zu kontrollieren", sagte Nationalrätin Marianne Streiff-Feller von der Evangelischen Volkspartei (EVP), die sich im Vorfeld der Abstimmung an vorderster Front gegen das Fortpflanzungsmedizingesetz eingesetzt hatte. Sie befürchtet eine schleichende Ausweitung in der Praxis.
In der Schweiz könnte eine ähnliche Entwicklung folgen wie etwa in England, befürchtet das Mitglied des überparteilichen Nein-Komitees. Dort seien in Katalogen Krankheiten aufgelistet, die als Kriterium für die Aussonderung von im Reagenzglas gezeugten Embryonen dienten. Im Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz sei nirgends explizit erwähnt oder definiert, was als "schlimme" oder "schwere" Krankheit gelte. "Hier müssen wir genau hinschauen", sagte Streiff-Feller. Das Nein-Komitee fordert deshalb vom Bundesrat, dass er die Anwendung der PID unter strenge Kontrollen stellt.
Als Vertrauensbeweis der Bevölkerung für die "verantwortungsvolle Arbeit des Parlaments", bezeichnet die freisinnige Nationalrätin Regine Sauter vom Ja-Komitee das deutliche Ja zum Fortpflanzungsmedizingesetz.
Zum Bedenken der Gegner, bei der PID könne in der Praxis ein Missbrauch nicht ausgeschlossen werden, sagt sie: "Es ist ganz klar, was erlaubt und was verboten ist." Wer etwas Verbotenes mache, handle illegal. Zudem existierten durchaus Kontrollen, die medizinischen Prozesse würden dokumentiert und erfolgten nur mit Einwilligung der betroffenen Paare.
Kein Verbot mehr
PID erlaubt es, im Reagenzglas gezeugte Embryonen auf schwere Erbkrankheiten und Chromosomenstörungen zu testen – und auszusortieren, bevor diese in die Gebärmutter eingesetzt werden. In der Schweiz werden den Wünschen der Eltern mit dem revidierten Gesetz vorerst enge Grenzen gesetzt. Genetische Untersuchungen an diesen Embryonen sind nur in zwei Fällen erlaubt, nämlich für Paare, die Träger schwerer Erbkrankheiten sind, und Paare, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen.
Bei letzteren kann mittels PID ein Embryo ausgewählt werden, der den entsprechenden Gendefekt nicht aufweist, so dass das Paar ein Kind bekommen kann, das nicht von der Erbkrankheit seiner Eltern betroffen ist. Bisher konnten diese Untersuchungen erst während der Schwangerschaft mit Hilfe von PID durchgeführt werden, mit der Folge, dass die Paare bei Hinweisen auf eine Erbkrankheit entscheiden mussten, ob sie die Schwangerschaft abbrechen wollten oder nicht.
Auch Paare, die ohne künstliche Befruchtung keine Kinder bekommen können, profitieren von den gesetzlichen Lockerungen. Viele von ihnen haben bisher mehrere Fehlgeburten erlebt. Nun können die Embryonen auf bestimmte genetische Eigenschaften hin untersucht werden. Anstatt wie bisher mehrere, kann nun ein einziger Embryo ausgewählt werden, der gute Entwicklungsfähigkeiten erwarten lässt.
Dadurch kann die Zahl risikoreicher Mehrfachgeburten reduziert werden. Ausserdem können nicht-eingesetzte Embryonen – höchstens zwölf pro Behandlungszyklus – für weitere Behandlungen aufbewahrt werden. Bisher mussten alle künstlich erzeugten Embryonen eingesetzt werden – das alte Gesetz erlaubte höchstens deren drei.
Mit der Aufhebung des Verbots wollten die Befürworter auch dem PID-Tourismus einen Riegel schieben. Viele Paare wichen bisher in Länder mit liberaleren Gesetzen aus, etwa nach Belgien oder Spanien.
Angst vor Designer-Babies
Die Gegner des revidierten Gesetzes stellten die Frage nach den Grenzen der technischen und medizinischen Machbarkeit. Sie kritisierten unter anderem, dass die PID künftig nicht nur bei Paaren mit schweren Erbkrankheiten angewendet werden dürfe, sondern auf Paare ausgeweitet werde, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen. Sie befürchteten einen Schritt in Richtung Eugenik. Sie warnten vor einem Dammbruch und verwiesen dabei auf fragwürdige Entwicklungen in anderen Ländern, in denen die Fortpflanzungsmedizin viel liberaler geregelt ist.
Umstritten war die Vorlage selbst bei Betroffenen schwerer Erbkrankheiten. Manche befürchteten, dass der Druck auf die Eltern steige, von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch zu machen, und sich Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, künftig dafür rechtfertigen müssten.
Einige Kritiker behaupteten auch, die Vorlage werde dazu missbraucht, Geld zu verdienen oder die Wirtschaftlichkeit der Spitäler zu erhöhen.
Der Bundesrat hatte ursprünglich vorgeschlagen, PID nur für Träger schwerer Erbkrankheiten zuzulassen. Damit hätte ein Teil der Gegner noch leben können. Tests an allen im Reagenzglas gezeugten Embryos gehen ihnen aber zu weit. Sie sehen darin einen Schritt hin zur Auswahl bestimmter Eigenschaften, zu "Designer-Babys" und zur Eugenik. Ihre Warnung vor der "schiefen Ebene" hat jedoch nur eine Minderheit der Stimmbevölkerung gehört.
Im Parlament war das revidierte Gesetz von einer klaren Mehrheit angenommen worden. Befürworter und Gegner fanden sich in fast allen politischen Parteien von links bis rechts. Entscheidend waren die persönlichen ethischen Werte und nicht das Parteibüchlein. Ein Nein empfohlen hatten die Schweizerische Volkspartei (SVP), Evangelische Volkspartei (EVP), die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU), die Partei der Arbeit (PdA). Die Sozialdemokratische Partei (SP) und die Grünen (GPS) hatten Stimmfreigabe beschlossen. Die Ja-Parole gefasst hatten die Freisinnigen (FDP.Die Liberalen), die Grünliberalen (GLP), die Bürgerlich-demokratische Partei (BDP) und sogar die Christlich-demokratische Partei (CVP). Die katholische und die reformierte Kirche, deren Mitglieder die Hälfte der Stimmberechtigten ausmachen, hatten ein Nein empfohlen.
Rechnen Sie damit, dass die Behörden die Anwendung der PID streng kontrollieren werden? © swissinfo.ch
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