Bis vor wenigen Wochen kannte kaum jemand Tim Walz, den neuen Vizepräsidentschaftskandidaten der Demokraten. Mit dieser Entscheidung will Kamala Harris Bevölkerungsgruppen ansprechen, die für die Wahl von grosser Bedeutung sind.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Hermsmeier sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am Dienstagabend stand das neue Spitzenduo der Demokraten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne: Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und ihr frisch bestimmter Stellvertreter Tim Walz. 12.000 Menschen jubelten ihnen in Philadelphia zu.

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"Also, wir haben 91 Tage Zeit. Mein Gott, das ist doch einfach", scherzte Walz und bedankte sich dann bei Harris: "Danke, dass du die Freude zurückgebracht hast." Harris wiederum schwärmte von Walz‘ Laufbahn und seinen Erfolgen als Gouverneur von Minnesota. Obwohl sich die beiden noch nicht gut kennen, wirkte es schon ziemlich vertraut.

Seitdem Joe Biden am 21. Juli seine Kandidatur zurückgezogen hat und Harris den Wahlkampf anführt, herrscht bei den Democrats plötzlich Euphorie. Zehntausende neuer Wahlkampfhelfer haben sich gemeldet, über 330 Millionen Dollar Spenden sind eingegangen. Auch die Umfragen sprechen mittlerweile für ein offenes Rennen. In Swing States wie Michigan und Wisconsin liegt Harris sogar vorne.

Wer ist "Coach Walz"?

Mit ihrer Entscheidung für Walz hat Harris nun ein nächstes Ausrufezeichen gesetzt. Doch wer ist überhaupt Tim Walz? Und was verspricht sich Harris von einem Politiker, den bis vor wenigen Wochen kaum jemand in den USA kannte?

Walz wuchs in einem kleinen Ort in Nebraska auf. Als 17-Jähriger schloss er sich der Nationalgarde an. Mitte der 90er Jahre zog Walz mit seiner Frau nach Minnesota, wo er als Lehrer an einer öffentlichen Schule arbeitete und deren Football-Team trainierte. Bei der Veranstaltung am Dienstag sprach Harris mehrfach von "Coach Walz".

Seit 2006 ist Walz in der Politik. Erst sass er zwölf Jahre lang für Minnesota im US-Repräsentantenhaus an. Seit 2019 ist er Gouverneur des Bundesstaates, hat seither eine Reihe bemerkenswerter sozialer Reformen durchgesetzt. Unter anderem gibt es in Minnesota nun kostenloses Schulessen für alle Kinder.

Tim Walz - plötzlich landesweit bekannt

Vor gut zwei Wochen katapultierte sich der 60-Jährige mit einem Fernsehinterview in die landesweiten Schlagzeilen. Walz sagte darin, dass die Spitzenkandidaten der Republikaner, Donald Trump und J.D. Vance, nicht nur gefährlich, sondern auch "weird" seien – also sonderbar, unheimlich.

"Weird" ist seither zur Lieblingsbeleidigung der Demokraten Richtung Republikaner geworden, Walz auf die Schnelle zum Star avanciert. Er wird an der demokratischen Basis als normaler Typ von nebenan gefeiert, als Kämpfer für die Arbeiter- und Mittelschicht, der eine klare Sprache spricht. Auch als liebevoller Dad – Videos von ihm und seiner Tochter Hope in einem Freizeitpark werden geteilt. Harris nutzt diesen Hype um Walz.

Es ist natürlich auch eine identitätspolitische Entscheidung: Sie, die schwarze Frau aus Kalifornien. Er, der weisse Mann aus dem Mittleren Westen. Während Harris vor allem bei gut ausgebildeten Grossstadtbewohnern, Frauen und People of Color punkten soll, wird sich von Walz versprochen, dass er in suburban-ländlichen Regionen Stimmen holt, dort im besten Fall bislang unentschlossene Wähler gewinnt. Man kann davon ausgehen, dass Walz insbesondere in den wichtigen Swing States des Mittleren Westen, also Michigan, Wisconsin und Pennsylvania, Wahlkampf machen wird.

Mobilisierte Basis

Die Entscheidung für Walz könnte auch deshalb strategisch klug sein, weil Harris damit auf die Signale der demokratischen Basis reagiert hat. Jüngere und linke Wähler sprachen sich deutlich für ihn aus, machten über Social Media Druck auf die Parteispitze. Bei der letzten Wahl 2020 halfen progressive Organisationen in hart umkämpften Staaten wie Arizona und Georgia dabei, dass Biden die Wahl gewinnen konnte.

Walz als neuer Running Mate – das ist eine mutige, offensive Entscheidung. Sie zeigt, dass sich die Demokratische Partei in den vergangenen Jahren verändert hat, für ökonomische Reformen viel offener ist. Und es zeigt, dass sich Druck von unten lohnt.

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