Die Baubranche fürchtet einen heftigen Einbruch bei Neubauten. Gewerkschaften, Wissenschaftler und Industrie fordern die Politik zum Handeln auf, um eine sich anbahnende Wohnungskrise zu verhindern.
Der Wohnraum ist schon jetzt knapp. Einer Studie zufolge fehlen bundesweit 700.000 Wohnungen, der deutsche Mieterbund warnte schon im Januar, dass die Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt "immer dramatischer" werde.
Dem wollte die Bundesregierung mit dem Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr entgegenwirken. Dieses Ziel musste Bauministerin Klara Geywitz im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion bereits einkassieren: "Ich gehe nicht davon aus, dass die Zahl von 400.000 Wohnungen in den Jahren 2022 und 2023 erreichbar ist. Unser Ziel ist aber, durch Vorfertigung und Digitalisierung 2024 und 2025 an diese Zahl heranzukommen."
Auch dieses Ziel scheint nun aber stark gefährdet. Die Baubranche steht kurz vor einer tiefen Krise, der Wohnungsbau-Tag sprach am Donnerstag gar vor einem "Kipppunkt" und betonte: "Es steht Spitz auf Knopf."
"Keine Talfahrt, sondern ein Absturz"
Zum einen sei der Wohnungsbedarf "extrem hoch", wegen der sinkenden Kaufkraft lasse jedoch die Baunachfrage nach. Die Branche kämpfe mit den hohen Zinsen und den stark gestiegenen Baupreisen, sagte Prof. Dietmar Walberg von der Universität Kiel. "Diese brisante Mischung hat es in Deutschland tatsächlich nie gegeben, und deswegen stehen wir jetzt vor einem Problem."
Beim Wohnungsbautag drängte er die Politik zum Eingreifen: "Wenn jetzt nichts passiert, dann gibt es beim Wohnungsbau keine Talfahrt, dann erleben wir beim Neubau von Wohnungen einen regelrechten Absturz."
Walberg stellte beim Wohnungsbautag eine Studie vor, die den Wohnungsbau als ein komplexes System beschreibt. Im Moment seien in diesem System die Kapazitäten zum Bauen von 400.000 Wohnungen vorhanden. Die Befürchtung ist jedoch, dass durch steigende Zinsen und Baukosten und aufwändige Genehmigungsverfahren diese Kapazitäten aufgrund der Auftragslage nicht ausgeschöpft werden.
Abwärtsspirale in der Baubranche befürchtet
Eine ifo-Umfrage bestätigt diesen Trend: Aktuell melden 16 Prozent der Wohnungsbauunternehmen abgesagte Aufträge - im Januar waren es 13,6 Prozent gewesen, im Februar 14,3 Prozent, wie das Ifo am Donnerstag mitteilte. "Das Neubaugeschäft bricht förmlich ein und die Zukunftssorgen in der Branche sind gross", sagte Ifo-Forscher Felix Leiss.
Die Studie der ARGE, Arbeitsgemeinschaft für zeitgemässes Bauen, befürchtet dadurch langfristig eine Spirale, in der auch die Kapazitäten sinken und aus der die deutsche Bauwirtschaft nur schwer wieder herauskommen könnte: "Die angemessene Deckung des Wohnraumbedarfs in Deutschland, insbesondere im Segment des bezahlbaren Wohnungsbaus, wird dann langfristig nicht mehr möglich sein", beschreibt die Studie die direkten Folgen für die Bevölkerung, die vor allem in Westdeutschland und in Grossstädten ohnehin schon unter Wohnungsmangel leidet.
Demzufolge droht die Zahl der Neubauten in diesem Jahr unter die Marke von 250.000 zu fallen, im kommenden Jahr dann unter die Marke von 200.000. Das Ziel von Bauministerin
Geywitz erteilt Sondervermögen eine Absage
Lukas Siebenkotten, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes, sieht die grössten Probleme beim sozialen Wohnungsbau. Da "brennt es am meisten", so Siebenkotten. Laut der Industriegewerkschaft IG Bau sei für diesen Bereich ein Sondervermögen von mindestens 50 Milliarden Euro bis 2025 nötig. Nur mit den zusätzlichen Mitteln könne es gelingen, 100 000 Sozialwohnungen pro Jahr neu zu bauen.
Bauministerin Geywitz erteilte der Forderung nach einem Sondervermögen im Namen der Bundesregierung beim Wohnungsbautag eine Absage. Sie betonte, dass sie die Probleme nicht kleinreden wolle. Trotzdem zeichnete sie ein positiveres Bild als die Vertreter von Industrie, Wissenschaft und Gewerkschaft: "Zwei Drittel der Unternehmen im Wohnungsbau beurteilen ihre Auftragsbestand derzeit trotz aller Schwierigkeiten noch als gross oder angemessen", sagte Geywitz.
Zudem hätten einzelne Bundesländer ihre Investitionen in den sozialen Wohnungsbau deutlich erhöht und die Fördergelder für klimafreundlichen Neubau würden gut abgerufen.
Bartsch: "Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit"
Laut dem Chef der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Feiger, sei es jedoch vollkommen unrealistisch, dass sich unter den veränderten Bedingungen zu den gleichen Kosten mehr bezahlbare Wohnungen errichten liessen.
Laut statistischem Bundesamt ist die Lage bereits jetzt für viele Mieter prekär. Jeder fünfte Haushalt in Deutschland muss demnach 40 Prozent des Einkommens für das Wohnen ausgeben, jeder sechste ist mit der Miete überlastet.
"Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit" betonte Linken-Politiker Dietmar Bartsch auf der Podiumsdiskussion beim Wohnungsbautag. Die Ampelkoalition habe sich gute Ziele gesetzt, hinke aber insbesondere beim sozialen Wohnungsbau wieder mal den Zielen hinterher.
Kevin Kühnert kritisierte grosse Wohnungsbaugesellschaften wie Vonovia. Diese hätten jahrelang Renditen aus dem Wohnungsmarkt gezogen und würden nun, wenn es Widerstand gebe, sofort nach mehr Staatshilfen rufen: "Die heulen mir ein bisschen zu laut", so Kühnert.
Verwendete Quellen:
- 14. Wohnungsbau-Tag
- Studie der ARGE e.V.: Status und Prognose: So baut Deutschland - so wohnt Deutschland
- afp-Material
- dpa-Material
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.