"Wir schaffen das": Angela Merkel versprach 2015 viel. Gemeinsam wolle man die Flüchtlingskrise bewältigen. Während Deutschland inzwischen eine Krise weiter ist, haben die Worte der Bundeskanzlerin Symbolcharakter. Ein Satz, für den sie bis heute von den einen bewundert und von den anderen verurteilt wird.
Sie ahnt nichts. Wenn man sich den Ausschnitt aus der Bundespressekonferenz heute noch einmal ansieht, wird das ganz deutlich.
Als
Der Soziologe Armin Nassehi von der Universität München hält "Wir schaffen das" für eine Ikone - ein Bild, das symbolhaft für etwas viel Grösseres steht. "Eine Ikone für die Flüchtlingskrise, für die gesamte Amtszeit von Merkel", sagt Nassehi.
"Aber er wurde nicht als ikonisches Symbol gesprochen. Es wirkt durchaus so, als sei der Satz vorher nicht von ihr geplant gewesen, sondern im Redefluss entstanden. Das macht ihn besonders stark."
Merkel: "Wir schaffen das!"
Im Kontext sagte Merkel, passend zum Spätsommertag gekleidet in strahlendes Magenta: "Deutschland ist ein starkes Land. Und das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!"
Nüchtern betrachtet ist der Satz eine Banalität. Eine Regierungschefin, die "Wir schaffen das nicht" sagen würde, müsste zurücktreten.
Zur grossen Provokation für viele Gegner ihrer Flüchtlingspolitik wurde der Satz aber gerade dadurch, dass er von ihr fast wie eine Selbstverständlichkeit vorgebracht wurde. Da wurde das Land - so die Wahrnehmung der Kritiker - von Flüchtlingen geradezu überströmt, und Merkel sagte nur, das werde man schon stemmen.
Merkel hätte auch eine Blut-Schweiss-und-Tränen-Rede halten können, frei nach dem Motto: Leute, das wird für uns alle jetzt ganz hart. Stattdessen, so Nassehi, sagte sie im Grunde: "Meine Güte, wir haben doch schon ganz andere Sachen hinbekommen." Sie wollte die Herausforderung einordnen - und dadurch Mut machen.
Merkels Satz wird oft mit Obama-Slogan verglichen
Allerdings veränderte sich in den darauffolgenden Wochen die Art, wie Merkel den Satz aussprach. "Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen und wir schaffen das", sagte sie zwei Wochen später am 15. September 2015.
Da hörte es sich anders an. Nun habe der Satz etwas von einem "Fanfarenstoss" gehabt, etwas Beschwörendes, sagt der niederländische Publizist und Bestsellerautor Geert Mak ("In Europa") der Deutschen Presse-Agentur: "Von diesem Moment an wurde Merkels Äusserung als eine der Ursachen der Migrantenwelle wahrgenommen."
"Wir schaffen das" ist oft mit
"Das sieht man dem Satz auch an. Und die Art, wie er von Obama vorgetragen wurde, war etwas ganz anderes."
Im Gegensatz zu Obama ist Merkel keine begnadete Rhetorikerin. "Aber sie sagt in den richtigen Momenten oft die richtigen Sätze", meint Nassehi. "Vielleicht ist das damals der Satz gewesen, auf den alles zulief."
"Wir schaffen das" und der Bezug zu "Bob der Baumeister"
Aus Sicht des Sprachwissenschaftlers Ekkehard Felder von der Universität Heidelberg hat der Satz "etwas Geniales". Nicht in dem Sinne, dass er besonders raffiniert ist.
Bis 2015 war der Ansporn "Wir schaffen das!" vor allem Kindergartenkindern und ihren Eltern bekannt - aus dem Titellied der Kinder-Animationsserie "Bob der Baumeister". "Können wir das schaffen? Jo, wir schaffen das!", wird da gesungen.
Die Genialität des Satzes besteht nach Felders Auffassung darin, dass er eine komplexe Situation verdichtet und dazu einlädt, selber Stellung zu nehmen. "Wenn wir uns an die damalige Situation erinnern, dann war es so, dass die einen im positiven Sinne überwältigt waren und die anderen im negativen Sinne", sagt Felders.
"Diese Gefühlslage wird in dem Satz zusammengefasst. Er bietet eine Projektionsfläche, um seine eigene politische Einschätzung deutlich zu machen. Und er lädt ein zur Abwandlung."
Kanzlerin: "Manchmal denke ich, dass dieser Satz etwas überhöht wird"
So prägte der AfD-Politiker Alexander Gauland den Gegen-Satz "Wir wollen das gar nicht schaffen". Zudem wurde das Merkel-Zitat immer wieder auch in anderen Kontexten aufgegriffen.
Als etwa der britische Premierminister Boris Johnson bei einem Besuch in Berlin seinen Optimismus hinsichtlich der Brexit-Verhandlungen zum Ausdruck bringen wollte, sagte er auf Deutsch: "Wir schaffen das."
Merkel hat sich 2016 durchaus selbstkritisch mit ihrem Ausspruch auseinandergesetzt. "Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird, dass zu viel in ihn geheimnist wird", sagte sie.
"So viel, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel geworden." Ähnlich äusserte sie sich am vergangenen Freitag in der Bundespressekonferenz: "Dieser Satz steht für sich, manchmal hat er sich sogar ein bisschen zu sehr verselbstständigt. Aber egal."
Ein Satz mit Folgen
Felder meint, dass jeder viel zitierte politische Ausspruch irgendwann zur Leerformel wird. Man denke an das bis zum Abwinken wiederholte und abgewandelte "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben".
Dass sich solche Sätze aber auch rächen können, zeigt das von Helmut Kohl in den 90er Jahren zahllose Male beschworene Bild von den "blühenden Landschaften" im Osten. Diese Formulierung des Einheitskanzlers wurde mit der Zeit zum Inbegriff eines hohlen Versprechens.
Merkel wäre es mit ihrem Satz vielleicht ähnlich ergangen, wenn sich die Kölner Silvesternacht, bei der es 2015 zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen gekommen ist, noch ein paar Mal wiederholt hätte. Heute, fünf Jahre später, sind die Flüchtlinge allerdings nicht mehr das beherrschende Thema.
Merkels Satz habe sich als "zukunftsweisend" erwiesen, kommentiert der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im Domradio. Der niederländische Schriftsteller Geert Mak urteilt: "Die deutsche Bevölkerung hat den Zustrom von fast einer Million Migranten aus einer anderen Kultur - jedenfalls nach aktuellem Stand und soweit ich das übersehen kann - vorbildlich bewältigt."
"Wir schaffen das" in Corona? Merkel will Satz nicht noch einmal verwenden
Inzwischen ist Deutschland eine Krise weiter. Merkel sagte am vergangenen Freitag, jede Herausforderung habe ihre eigene Sprache, und deshalb würde sie "Wir schaffen das" in der Corona-Pandemie nicht noch einmal verwenden.
Dennoch weist der Satz über das Flüchtlingsthema von 2015 hinaus. "Wenn man ihre Kanzlerschaft unter einem Begriff fassen wollte, dann wäre das wahrscheinlich Pragmatismus", meint Nassehi.
"Kein grosses Drumherumreden, keine grosse Programmatik. Der Satz 'Wir schaffen das' fasst das zusammen. Wir schaffen das – weil uns auch gar nichts anderes übrig bleibt." (msc/dpa)
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