Wochenlang hatte die Gefahr der Infektion die Menschen im Kampf gegen das Coronavirus geeint. Diese Zeit ist vorbei. Zahlreiche Bürger fühlen sich von der Regierung und Erlassen gegängelt. Wütend wird protestiert. Die Demonstranten sind eine heterogene Gruppe. Sie dürften nicht pauschal verurteilt werden, warnt ein Experte.

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Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen warnt davor, die Protestierenden in der Coronakrise pauschal auszugrenzen, sie als "Spinner", "Paranoiker" und "Hysteriker" abzutun. Dies trage nur zur Verhärtung der Fronten bei, sagte Pörksen der Deutschen Presse-Agentur.

Selbstverständlich gebe es Antisemiten und Rechtsradikale, von denen man sich massiv abgrenzen müsse. Hier dürfe es keine falsche Toleranz geben.

Aber die Vielschichtigkeit der Proteste enthalte eigentlich einen "Aufruf zum differenzierten Diskurs". Man müsse die Extremisten scharf kritisieren, dürfe die Zweifelnden, Suchenden und Andersdenkenden jedoch nicht diffamieren.

Pörksen fordert Sichtweise der "respektvollen Konfrontation"

Pörksen verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der "respektvollen Konfrontation". Damit meine er: "Sich nicht opportunistisch wegducken, klare Kante zeigen, sagen, was zu sagen ist. Aber eben auch nicht in die Abwertungsspirale einsteigen." Sonst bestünde die Gefahr, dass letztlich die Lauten und Pöbelnden – aggressive Minderheiten – die gesellschaftliche Kommunikation dominierten.

Seit der Flüchtlingskrise erlebe Deutschland "einen kommunikativen Klimawandel, eine ungesunde Überhitzung von Debatten und Diskursen", sagte Pörksen, der zusammen mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun das Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens" veröffentlicht hat.

Die gesellschaftliche Mitte müsse verbal abrüsten

Die gesellschaftliche Mitte müsse in dieser aufgeheizten Situation für eine Sprache der Abkühlung stehen. Dabei gehe es zunächst einmal um die Vermeidung pauschaler Attacken. "Man kann eines mit Gewissheit sagen: Weisser alter Mann, hysterische Feministin, krimineller Flüchtling und jetzt eben Covidiot – all das sind Vokabeln der Verunglimpfung, die ein Gespräch unter Garantie ruinieren."

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Gleichzeitig könne man in der Sache klar widersprechen. "Wir denken gegenwärtig in falschen Alternativen", sagte Pörksen. Entweder solle man allen gegenüber Verständnis zeigen. "Oder man soll vor allem rote Linien der Debatte definieren, weil sich sonst die Grenzen des Sagbaren weiter verschieben."

Beides sei so pauschal wenig hilfreich, es gehe vielmehr um die richtige Mischung aus Akzeptanz und Konfrontation, aus Wertschätzung und Streitbarkeit. Diese jeweilige Mischung hänge ganz von der Situation ab. "Mal gilt es, Verständnis zu zeigen, mal gilt es, Kritik zu üben, sich scharf abzugrenzen. Beides ist in immer anderen Mischungsverhältnissen nötig."

Viele Bürger können wahre und unwahre Nachrichten nicht unterscheiden

Mittel- und langfristig müsse man daran arbeiten, die "gewaltige Medienbildungslücke" vieler Bürger zu schliessen. Häufig fehle es an elementarer Quellenkenntnis, an der Fähigkeit, zwischen frei erfundener Fake News und einer durch Quellen belegten journalistischen Meldung zu unterscheiden. Man kämpfe aktuell nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen eine "Infodemie".

"Es braucht eine werteorientierte Medienbildung, die schon in der Schule beginnt", forderte Pörksen. "Und wir müssen begreifen: In der aktuell laufenden Kommunikationsrevolution steckt ein grosser, noch unverstandener Bildungsauftrag. Es gilt die Kunst des Miteinander-Redens – auf der Weltbühne des Netzes – neu zu lernen und zu erproben." (dpa/hau)

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