Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die SPD davor gewarnt, Andrea Nahles zu stürzen. Er sprach von einer "Selbstzerstörung" der Partei. Die SPD müsse stattdessen ihren Identitätskern wieder sichtbar machen.
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat einem Medienbericht zufolge die SPD-Bundestagsabgeordneten gewarnt,
"Wer als Partei glaubwürdig für eine Politik der Solidarität eintreten will, der muss selbst Solidarität vorleben – sonst betreibt er Selbstzerstörung unserer Partei." Die existenzbedrohliche Situation der SPD zu personalisieren, sei der bequeme Weg. Thierse forderte stattdessen, den "Identitätskern der SPD" wieder sichtbar zu machen.
Keine Mehrheit für Andrea Nahles?
Partei- und Fraktionschefin Nahles hatte nach dem Desaster der SPD bei der Europawahl am Montagabend angekündigt, dass sie sich in der kommenden Woche am Dienstag in der Fraktion der Neuwahl stellen will.
Viele Abgeordnete fühlten sich überrumpelt und waren verärgert. Das wurde nach Teilnehmerangaben auch bei einer Sonderfraktionssitzung und bei Treffen der Abgeordneten der verschiedenen Parteigruppen am Mittwoch deutlich.
Als wahrscheinlich gilt, dass viele Abgeordnete Nahles ihre Stimme auch ohne Gegenkandidaten verweigern. Im Falle einer Niederlage könnte sich Nahles auch vom Parteivorsitz zurückziehen.
Entsprechend äusserte sie sich nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur in kleiner Runde. Die "Bild"-Zeitung (Freitag) berichtete darüber unter Berufung auf Nahles-Vertraute.
Der SPD-Parlamentarier Bernd Westphal sagte der "Rheinischen Post" (Samstag), er sehe am Dienstag keine Mehrheit für Nahles. "Das höre ich von sehr vielen SPD-Abgeordneten, aber auch von der Parteibasis, die einen Neuanfang ohne Andrea Nahles fordern."
Auch wenn sich bis Dienstag kein Gegenkandidat mehr meldet, kann Nahles laut Westphal abgelöst werden. "Entweder sie übernimmt jetzt selbst die Verantwortung für die Verluste bei der Europawahl und tritt vorher zurück. Oder sie muss am Dienstag eine Niederlage einstecken", so Westphal. "Dann wird sich ein anderer Kandidat oder Kandidatin zur Verfügung stellen."
Debatte um Fortbestand der Koalition kocht hoch
Der hessische Parlamentarier Sascha Raabe sagte dem Radiosender hr-iNFO: "Wenn Andrea Nahles die einzige Kandidatin sein sollte, wird sie meine Stimme nicht bekommen." Nahles solle zur Einsicht kommen, "dass sie den Platz frei machen muss, und jemand anderes antreten kann. Manche trauen sich jetzt nicht."
Unter anderem der frühere Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte angekündigt, nicht gegen Nahles anzutreten. Der als möglicher Kandidat gehandelte Chef der NRW-Landesgruppe, Achim Post, äusserte sich bisher nicht.
Auch die Debatte über den Fortbestand der Koalition kochte wieder hoch. Mehrere Abgeordnete wandten sich in der Fraktionssitzung dagegen und mahnten, die Folgen zu bedenken, wie Teilnehmer berichteten. Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann sagte in der Sitzung nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel": "Wir müssen Trophäen einfahren, oder wir werden Konsequenzen ziehen müssen." Die SPD stehe vor der Frage, ob es die Groko an Weihnachten noch gebe.
Vor der Neuwahl in der Bundestagsfraktion trifft sich der Parteivorstand am Montag zur Aufarbeitung der Wahlniederlage. (ff/dpa)
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