Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. "Jetzt also auch Deutschland" denken viele und werfen dabei unterschiedliche Zutaten in einen Topf, in dem nun die Angst hochkocht und mitunter auch der Hass brodelt. Dieses Süppchen kann nicht schmecken. Dabei sollte sich niemand seiner Angst schämen. Beim Hass verhält es sich jedoch anders. Ein Kommentar.

Ein Kommentar
von Michael Wollny

"Bauch sagt zu Kopf ja, doch Kopf sagt zu Bauch nein", textete Mark Forster vor rund einem Jahr und landete damit einen Hit.

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Emotion gegen Vernunft

Der deutsche Popsänger zielte mit dieser Zeile auf die innere Zerrissenheit im Leben eines jeden Menschen, auf das Ringen zwischen Emotion und Vernunft. Somit umschreibt der Text recht gut die momentane Gefühlslage vieler Menschen in Deutschland, nach einer Serie schockierender Gewalttaten innerhalb von nur einer Woche.

Erst Paris, Brüssel, Istanbul, Nizza. Nun also Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. Die zeitliche Chronologie des Grauens mag stimmen, doch die Kausalität ist falsch. Amoklauf in München, Beziehungstat in Reutlingen. Nur in Würzburg und Ansbach soll islamistischer Terror das Tatmotiv gewesen sein.

Doch die Differenziertheit in der Betrachtung fällt bisweilen schwer, wenn die Welt gefühlt aus den Fugen zu geraten scheint. Natürlich ist die Gefahr auch weiterhin um ein Vielfaches höher, auf dem Weg in die Arbeit im Strassenverkehr zu sterben, als durch einen Amoklauf oder Terroranschlag.

Man weiss das, doch fühlt etwas anderes. Kopf und Bauch tragen ihren Konflikt aus, ein Duell um die Deutungshoheit über dieses sinnlose Töten und Sterben. Das von Innenminister Thomas de Maizière erneut betonte Credo, sein Leben einfach weiterzuleben, ist eben einfacher gesagt als einfach gelebt.

Es wird schon nichts passieren ...

In der S-Bahn beobachte ich Menschen, die plötzlich nicht mehr auf ihre Smartphones starren, sondern auf ihren Sitznachbarn schielen. Ich kenne Eltern, die Viertklässler wieder von der Grundschule abholen, obwohl die Kleinen eigentlich schon seit der Zweiten alleine nach Hause gehen. Die unbeschwerte Vorfreude auf einen Konzertbesuch weicht der Hoffnung, dass schon nichts passieren wird.

Eine Hoffnung, die sich in der Regel auch weiterhin erfüllen wird. Doch es ist nicht die Regel, die momentan die Gespräche in Familie, Freundeskreis und unter Kollegen bestimmt, es ist die Ausnahme. Ein ungutes Gefühl an der gefährlichen Grenze zur Paranoia.

Der Terror erreicht damit sein Ziel. Und man nimmt ihm nicht den Schrecken, indem man ihn trivialisiert. Statistische Vergleiche zwischen Verkehrs- und Terrortoten funktionieren bestenfalls als makabre Pointe, nicht aber als Beruhigung im Alltag - weil der Vergleich einfach hinkt. Die Psychologie ist schlichtweg eine andere.

Ich kenne Gott sei Dank keine Terroropfer persönlich. Aber ich kenne auch niemanden, der beim Essen den Tod durch Ersticken gefunden hat. Ich kenne noch nicht mal jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennen würde, dem dieses Schicksal widerfahren wäre. Und ich habe viel herumgefragt.

Akute Bedrohung in Deutschland - am Esstisch!

Und doch sind laut Statistischem Bundesamt in den vergangenen Jahren mehrere Hundert Menschen beim Essen erstickt. Allein in Deutschland. Jahr für Jahr. Das sind pro Jahr weitaus mehr Erstickungsopfer als alle Terroropfer in den zurückliegenden Jahren in ganz Westeuropa zusammen.

Diese Zahlenspiele relativieren zwar die faktische Bedrohung, sind als Trost jedoch zynisch, weil sie den Angehörigen von Terror- oder Amoktaten ihre Lieben nicht zurückbringen. Darüber hinaus kann Alltagsstatistik nur bedingt beruhigen, weil sie den Verstand anspricht, wo der Verstand eigentlich aussetzt.

Statistik ignoriert die Unfassbarkeit einer lebensverachtenden Lust am Morden. Die Unvorhersehbarkeit einer unvorstellbaren Tat, die Perversion eines Moments. Das grausame Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.

Die Angstvergleiche passen nicht

Niemand hat ernsthaft Angst, beim Essen zu ersticken. Ordentliches Kauen kann hier durchaus den persönlichen Fortbestand über das Dessert hinaus sichern. Der Terror aber erodiert in seiner Form dieses Gefühl von eigenverantwortlicher Sicherheit. Insofern passen die Angstvergleiche auch nicht.

Denn wie geht man der Gefahr aus dem Weg, wenn ein kranker Geist in der Fussgängerzone neben einem den Sprengstoffgürtel zündet? Welchen Handlungsspielraum hat man, wenn ein Mensch Pistole oder Messer zieht und tut, worin nur er einen Lebenssinn erkennen mag: Im Auslöschen von Menschenleben?

Hier zielt auch der Vergleich zu den Siebziger- und Achtzigerjahren ins Leere, als der Terror durch RAF, ETA und IRA in Europa seinen Höhepunkt erreichte. Doch dieser Terror, so perfide und tödlich er auch war, richtete sich vornehmlich gegen staatliche Strukturen. Das verharmlost ihn keinesfalls, grenzt ihn jedoch gegen die psychopathische Barbarei des islamistischen Terrors ab, der sich gezielt gegen Zivilisten richtet.

Es ist diese mörderische Perversion und ihre Unberechenbarkeit, welche das Angstgefühl nun auch in Deutschland verstärkt.

Besonnenheit statt Hysterie

Rationale Angstbewältigung funktioniert nur mässig, wenn die Irrationalität der Bedrohung immanent ist. Daraus zieht der Amoklauf schliesslich seinen Schrecken, der islamistische Terror seinen Wahnsinn.

Die Taten schockieren, verängstigen und machen wütend - emotionale Reaktionen, die nur menschlich sind. Doch gilt es bei aller Emotionalität, in der Konsequenz nicht Menschlichkeit und Vernunft auszuschliessen.

"Noch sind wir schockiert", erklärte Norwegens damaliger Ministerpräsident Jens Stoltenberg 2011 nach dem Amoklauf des Massenmörders Anders Behring Breivik, "aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit."

Man kann die Angst vor dem Terror zulassen, sie somit greifbar und begreifbar machen – um sie schliesslich zu bewältigen. So viel Zeit zur Reflexion darf sein, muss sein. Andernfalls gewinnt Hysterie die Oberhand, wo Besonnenheit nötig wäre. Dann versprechen die billigsten Parolen die einfachsten Lösungen. Mit ihnen aber läuft man Gefahr, sich gleichzumachen mit den Spinnern und Verrückten, die diese Angst verbreiten.

Denn die Angst vor dem unmenschlichen Hass Einzelner rechtfertigt keine ideologische Flucht in den Hass gegen all jene Menschen, die aus eben dieser Angst überhaupt erst geflohen sind.



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