Ein 26 Jahre alter Mann mit blauen Haaren macht seiner Wut über die Politik in einem Youtube-Video Luft. So simpel das klingt: Die Union hat genau dieser Clip vor der Europawahl kalt erwischt. Die anschliessende Debatte um das Rezo-Video und die Reaktion von Annegret Kramp-Karrenbauer werfen grundsätzliche Fragen zur Kommunikation mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf.
Rezo ist einer der erfolgreichsten Musik-Videoblogger in Deutschland, aber die Schwelle von mehr als fünf Millionen Abrufen überschreitet er mit den Videos auf seinen beiden Youtube-Kanälen nur hin und wieder.
Seine Generalabrechnung mit der Politik von CDU, CSU, SPD und AfD sprengt dagegen alle Rekorde. 12,7 Millionen Mal wurde das 55-Minuten-Video mit dem Titel "Die Zerstörung der CDU" inzwischen abgerufen. Das ist mehr als die durchschnittliche Reichweite der "Tagesschau".
Wirksame Reaktion bleibt aus
Die Wutrede des 26-Jährigen mit dem blau gefärbten Haar hinterlässt in der Politik tiefe Spuren. In der Altersgruppe der Wähler zwischen 18 und 24 Jahren stimmten 35 Prozent für die Grünen. Das ist auch die Altersgruppe, die besonders häufig das Rezo-Video abgerufen hatte.
Weit weniger wirkungsvoll fiel der Versuch der Jungen Union aus, in den Sozialen Netzwerken junge Wähler für die Union zu mobilisieren. Unter dem Hashtag #JU4EU traten zwar auch Influencer wie Yvonne Pferrer, die über eine Million Instagram-Abonnenten hat, in einem Hoodie der Nachwuchsorganisation auf. Doch die Posts entfalteten keine virale Wirkung.
Auf das Zerstörungs-Video von Rezo wurden dagegen nicht nur die Online-Experten im Konrad-Adenauer-Haus schnell aufmerksam. Die Christdemokraten kritisierten die Wutrede als einseitig, unsauber recherchiert, zugespitzt. Doch eine wirksame Reaktion aus der CDU-Zentrale blieb aus.
Statt Amthor reagiert AKK
Ein angebliches Antwort-Video des ebenfalls 26 Jahre alten Unionsabgeordneten
Nach einigem Hin und Her rang sich die Parteiführung immerhin dazu durch, sich in einem langen Dokument "Wie wir die Sache sehen" an den inhaltlichen Punkten von Rezo abzuarbeiten, die der Blogger in seinem Video aufwendig mit Quellenhinweisen belegt hatte.
Ulf Buermeyer, Bürgerrechtler, Richter und Podcaster ("Lage der Nation") kann dabei nur den Kopf schütteln: "Sie veröffentlichen ein 11-seitiges PDF im Internet, eng bedruckt, keine Grafiken. Man nennt das in der Fachsprache eine 'Bleiwüste'. Und ganz ehrlich: Das liest halt niemand. Und vor allem lesen das exakt null Prozent von denjenigen, die das Rezo-Video gesehen haben."
Keine Ruhe nach der Europawahl
Nach der Europawahl können die Verantwortlichen der Union das Youtube-Debakel nicht einfach abhaken und zur Tagesordnung übergehen. Zu deutlich haben Rezo und 70 weitere Youtube-Stars, die sich mit seiner Kritik solidarisiert hatten, die Meinungsbildung vor dem Urnengang geprägt.
"Jetzt sind plötzlich alle ganz aufgeschreckt", schreibt Social-Media-Experte Philipp Jessen im "Tagesspiegel Background Digital". "Weil sie sehen, welchen politischen Einfluss ein Youtuber mit blauen Haaren und ein kluges Mädchen mit Namen Greta haben können, beide mit Smartphone und grossen Ideen bewaffnet, aber ohne Parteizugehörigkeit", so der Geschäftsführer der Kommunikationsberatung Storymachine.
Welche Regeln gelten im Netz
Doch statt versöhnlicher Signale aus der CDU-Zentrale kommen in der Netz-Szene nur Äusserungen an, die als Affront empfunden werden. Unter dem Hashtag #AKKRuecktritt empörten sich am Dienstag unzählige Twitter-Nutzer über die Gedankenspiele der CDU-Vorsitzenden zu Regeln für "Meinungsmache" im Netz.
"Was wäre eigentlich in diesem Lande los, wenn eine Reihe von, sagen wir, 70 Zeitungsredaktionen zwei Tage vor der Wahl erklärt hätten, wir machen einen gemeinsamen Aufruf: Wählt bitte nicht CDU und SPD", sagte sie und erklärte, dass "Regeln aus dem analogen Bereich" auch online gelten müssten.
Zuvor hatte bereits Thomas Bareiss, CDU-Vorstandsmitglied und Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Öl ins Feuer gegossen. Via Twitter reagierte er auf die Stimmenverluste der Union mit einem Hinweis, der von vielen jungen Leuten als überheblich empfunden wurde: "Wenn die #Erstwähler mal ihr eigenes Geld verdienen und selber spüren wer das alles bezahlen muss sieht die #Wahl vielleicht auch wieder anders aus." In über 4.000 Kommentaren auf Twitter kam sein Statement durchweg nicht gut an. (awa/dpa)
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