Porsches, Privatbanken, Partys, Koks – Zürich ist in vielerlei Hinsicht eine Stadt der Superlative. Dies gilt auch hinsichtlich direkter Demokratie. Das zeigt sich am 10. Juni: Am Sonntag stimmen die Bürgerinnen und Bürger über ganze 14 Geschäfte ab. Diese direktdemokratische Welle birgt aber auch Gefahren.

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In den Händen vieler Menschen, die auf der Bahnhofstrasse schlendern, schwingen Tragtaschen aus dickem Papier. Darauf steht Chanel, Bulgari, Gucci. Andere tragen Aktenmappen und Anzüge aus feinem Tuch, vorzugsweise grau.

Wenn Zürich die reichste Stadt überhaupt ist, wie eine kürzlich veröffentlichte UBS-Studie besagt, dann ist die Bahnhofstrasse das teuerste Pflaster der Welt. Hier reihen sich die Designerläden aneinander wie Perlen an einer sündhaft teuren Kette.

An der Bahnhofstrasse liegt der Paradeplatz, wo das Herz des Schweizer Bankenwesens schlägt; hier befinden sich die Hauptsitze der grössten Schweizer Geldinstitute.

Etwas weiter folgt das Fünf-Sterne-Hotel Baur au Lac. Für ein Doppelzimmer bezahlt man hier 800 Franken. Pro Nacht. Vor der Lobby stehen Bentleys, Porsches, Bugattis.

Streetparade – Abstimmungsparade

In dieser Stadt klimpert nicht nur das Geld, es pochen auch die Beats. Jedes Wochenende in zahlreichen Clubs. Und einmal pro Jahr an der Streetparade, der grössten Technoparty der Welt.

Diese Stadt ist mit ihrer international betrachtet geringen Einwohnerzahl von 424'000 eine wichtige Metropole des Geldes und der elektronischen Musik. Und ebenso eine Hochburg der Kunst und der Religion, schliesslich wurde hier der Dadaismus geboren und die Reformation in der Schweiz begründet.

1968 setzte Gitarrengott Jimi Hendrix am so genannten Monsterkonzert die Jugend der Stadt unter Strom. Jetzt, 50 Jahre später, kommt es am Sonntag in Zürich zur Monsterabstimmung. Dick wie ein Buch war der Umschlag mit den Abstimmungsunterlagen, der in den letzten Wochen in die Zürcher Briefkästen plumpste.

Über ganze 14 Vorlagen müssen die Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher entscheiden: zwei nationale Volksinitiativen, zwei kantonale Geschäfte, und, als Hauptpaket, zehn städtische Vorlagen.

Darunter sind nicht weniger als acht Finanzvorlagen. Es geht unter anderem um die Einführung von Tagesschulen, Kredite für neue Bauten diverser Verwaltungsgebäude und die Wahl der Aufsichtsorgane für Grundschulen.

"Können das nicht steuern"

"Eine solch grosse Anzahl an Vorlagen ist auch für uns ungewöhnlich", sagt Claudia Cuche-Curti, Stadtschreiberin von Zürich. Dazu hätten mehrere Faktoren geführt. In der Schweiz werden pro Jahr vier Abstimmungssonntage fixiert. Am letzten Termin im März fanden in Zürich die kommunalen Wahlen statt. "Da legen wir üblicherweise keine Abstimmungsvorlage dazu", erklärt Claudia Cuche-Curti.

Verunmöglicht werde eine gleichmässige Verteilung auch dadurch, dass die Geschäfte jeweils erst in Parlament und Kommissionen debattiert werden. "Wann diese Besprechungen abgeschlossen werden, können wir nicht steuern." Volksinitiativen unterliegen überdies seit dem Jahr 2000 einer Frist, innert welcher sie vors Stimmvolk kommen müssen.

Zumutbar – ja oder nein?

Eine solche Vorlagenflut sei für die Zürcherinnen und Zürcher nicht zumutbar, fand jedoch Toni Stadelmann, der vor vier Jahren als Parteiloser für den Stadtrat, das städtische Parlament, kandidierte. Die Stimmenden würden sachlich, zeitlich, intellektuell überfordert und die freie Meinungsbildung sei nicht mehr gewährleistet.

Er legte einen Stimmrechtsrekurs ein, der abgewiesen wurde. Die Anzahl sei zwar gross ist, aber zumutbar, hiess es. Vor wenigen Tagen bestätigte das Verwaltungsgericht den Entscheid. Auch weil die kommunalen Vorlagen "nicht sehr komplex" seien, wie es im Urteil heisst.

Das bekräftigt Stadtschreiberin Claudia Cuche-Curtis: "Gerade die Bauvorhaben sind grundsätzlich leicht verständliche Geschäfte." In der Abstimmungszeitung, die gemeinsam mit den Stimmunterlagen verschickt wird, seien überdies alle Hintergründe und die Empfehlungen beider Seiten in längerer und auch ganz kurzer Version bereitgestellt. "So kann man sich ohne viel Aufwand ein umfassendes Bild machen."

Die Müdigkeit des Stimmenden

Thomas Milic, Lehrbeauftragter am Zentrum für Demokratie in Aarau (ZDA), sagt, dass aus so viele Vorlagen durchaus eine Überforderung resultieren könne. Er erwähnt das Phänomen der "Voter Fatigue" ("Stimmmüdigkeit"), die in mehreren Studien auch in der Schweiz nachgewiesen wurde.

"Sie führt dazu, dass Vorlagen, die weiter hinten platziert sind, eher abgelehnt werden und zwar unabhängig vom Inhalt." Die Effekte seien jedoch gering. Ein gravierendes demokratietheoretisches Problem entstehe gemäss den Schweizer Studien nicht.

Ob jemand teilnimmt an einer Abstimmung, darüber entscheidet gemäss Milic aber weniger die Anzahl, sondern der Inhalt der Geschäfte. "In der kommenden Abstimmung fehlt auf Bundesebene eine Lokomotivvorlage", sagt er. Also ein Geschäft, das viele Menschen berührt und an die Urne bringt. Denn: "Wer aufgrund einer Vorlage sowieso teilnimmt, der füllt eher auch die Stimmzettel für die anderen, kommunalen Sachfragen aus." Das werde in dieser Abstimmung wohl nicht der Fall sein.

Der Ausreisser von Palau

Von der Zahl der Abstimmungen her sind die Stadt und der Kanton Zürich weltweit mit jeweils über 3.000 Abstimmungen seit 1869 absolute Spitzenreiter.

Monster-Urnengänge aber sind keine Exklusivität der Schweizer Demokratie. In Ecuador beispielsweise wurde 2011 am gleichen Tag über zehn Verfassungsänderungen abgestimmt. Im US-Bundesstaat Oregon waren es einmal gar über 15 staatliche Vorlagen auf einen Schlag.

Das deutsche Bundesland Hessen wird diesen Herbst zehn Geschäfte vors Volk bringen, darunter die Abschaffung der Todesstrafe. Auch für den US-Bundesstaat Florida und Taiwan sind bei Abstimmungstermine im November zehn und mehr Vorlagen programmiert.

Den "Abstimmungsrekord" allerdings hält ein Land auf der anderen Seite der Welt: Palau, der Inselstaat im Pazifischen Ozean. Dort gab es vor zehn Jahren ein 23-faches Verfassungsreferendum.

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