- Seit einem Jahr sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel an diesem Dienstag im Amt.
- Unsere Experten sind sich einig: Auf die Corona-Krise haben sie beachtliche Antworten gefunden.
- Die wichtige Migrationspolitik ist jedoch in den Hintergrund gerückt.
Ihr erstes Jahr im Amt war alles andere als ein Routinejahr für EU-Kommissionspräsidentin
Von der Leyen habe in der Pandemie ziemlich geschickt agiert, findet auch EU-Haushaltsexperte Dr. Peter Becker von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Sie hat die ohnehin laufenden Haushaltsverhandlungen genutzt, um angemessen auf die absehbar grossen Folgen der Corona-Krise zu reagieren." In enger Zusammenarbeit mit Michel sei es ihr gelungen, das Corona-Hilfsprogramm schnell und wirkungsvoll auf die Schiene zu setzen.
Von der Leyen arbeite ausserdem sehr gut mit den beiden grössten Mitgliedstaaten – mit Frankreich und Deutschland – zusammen, lobt Becker und erinnert: Der französische Staatschef Emmanuel Macron hatte sich anfangs für sogenannte Coronabonds, gemeinsame europäische Staatsanleihen, ausgesprochen, während Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Möglichkeit vehement ablehnte. Kommission und Rat vermittelten, Paris und Berlin einigten sich auf das Investitionsprogramm NextGenerationEU. Dabei garantiert die Gemeinschaft für die Schulden, nicht einzelne Mitgliedstaaten, wie es bei Coronabonds der Fall gewesen wäre. "Auf mich wirkte es, als seien von der Leyen und Michel bei dieser wichtigen Entscheidung das Bindeglied zwischen Deutschland und Frankreich gewesen", so Becker.
EU-Haushalt: Polen und Ungarn machen Ärger
Aktuell hakt es allerdings im Zuständigkeitsbereich des Belgiers Charles Michel: Ungarn und Polen blockieren die Verabschiedung des Finanzpakets. Sie wollen verhindern, dass EU-Zahlungen an Rechtsstaatlichkeit geknüpft sind. Greift der Ratspräsident nicht ausreichend durch? "Von der Leyen und Michel bringen unterschiedliche Talente mit, die es für diese unterschiedlichen Positionen auch braucht", findet Weidenfeld. Während von der Leyen die Kommission "in beachtlicher Form" führe, müsse Michel stärker koordinieren. "Wenn er sich bei einem Thema zu weit aus dem Fenster lehnt, kommt das nicht gut an: Die Staaten müssen unter seiner Leitung einen Konsens finden."
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Positiv bewertet der Münchner Politikwissenschaftler, wie schnell die EU unter von der Leyen in der Pandemie handelt: "Im Gesundheitswesen hatte der Staatenverbund bislang kaum Kompetenzen. Aber man hat schnell die Initiative ergriffen, um das Problem international anzugehen." Anfang April veröffentlichte die Kommission Leitlinien, damit mehr Patienten grenzüberschreitend behandelt werden und Gesundheitspersonal aus Ländern, die Kapazitäten haben, dorthin geht, wo dringend Hilfe benötigt wird. Auch als bekannt wurde, dass bald erste Impfstoffe gegen das Coronavirus zugelassen werden, handelte die Kommission schnell Verträge aus. Sie sichert sich so grosse Lieferungen, die unter den Mitgliedstaaten verteilt werden sollen.
Gemischte Gefühle beim Green Deal
Für Aufsehen hat Ursula von der Leyen Ende 2019 gesorgt, als sie ihre Klimaziele, den Green Deal, vorstellte. "In den nächsten zehn Jahren will sie die Volkswirtschaft umstellen", sagt Peter Becker. "Die neue Zielsetzung ist nicht mehr nur Wachstum, sondern nachhaltiges Wachstum." Das sei ein grosser Schritt – auch wenn noch viele Detailfragen geklärt werden müssten. "In den Haushalten steht sehr viel Geld bereit, um die Strukturen auch wirklich zu verändern", sagt der EU-Experte. Besonders geschickt von von der Leyen findet er dabei den Transitionsfonds, mit dem sie Kohle-Länder wie Polen, Bulgarien oder Rumänien bei der Energiewende unterstützen will. Nur so könne sie Bedenken abfedern und auch diese Staaten mitnehmen.
Weidenfeld bewertet das Thema Green Deal zurückhaltender: "Der öffentliche Druck beim Thema Klimaschutz ist gross, von der Leyen musste sich da positionieren. Aber jetzt müssen wir erst einmal abwarten, was wirklich daraus wird."
In den Hintergrund gerückt: die Migrationspolitik
Denn beim Thema langfristige Strategien sieht der EU-Experte die grosse Schwäche der Staatengemeinschaft. Das sei schon lange so – und daran hätten auch von der Leyen und Michel bislang nichts geändert.
Ein Beispiel ist die Migrations- und Integrationspolitik, die fünf Jahre nach der grossen Flüchtlingsbewegung angesichts der Corona-Krise stark in den Hintergrund gerückt ist. Zudem haben von der Leyen, Michel und die EU nach dem Brand des Flüchtlingslagers im griechischen Moria Anfang September "eine schlechte Figur gemacht", betont Weidenfeld. Hier komme es unter ihrer Führung zu "dramatischen Unmenschlichkeiten" innerhalb der EU.
"Auch wenn wir wegen Corona gerade seltener darüber sprechen: Das Grundsatzproblem bleibt, denn auch hier fehlt dem Staatenverbund eine Strategie", sagt Weidenfeld. "Wo liegen die Ursachen? Wie können wir sie bekämpfen? Wie kommen die Menschen hierher und wie erfolgt deren Selektion?" Auch in der Aussen- und Sicherheitspolitik sieht der Wissenschaftler noch viel Arbeit vor den beiden Politikern liegen: "Die EU muss mehr weltpolitische Verantwortung übernehmen."
Harsche Kritik aus der eigenen Partei
Auch im Europaparlament gibt es Kritik an Ursula von der Leyen. Vor allem beim Green Deal sind Abgeordnete skeptisch, weil nach der vollmundigen Ankündigung die konkrete Umsetzung noch aussteht. Harsche Worte kommen sogar aus den eigenen Reihen: Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke etwa kritisierte sie im Oktober in einem Gastbeitrag in der "Welt". Nüchtern betrachtet habe sie "wenige Beiträge zur Verbesserung der komplizierten Ausgangslage geliefert" und sei "nur selten ihrem eigenen Führungsanspruch gerecht geworden". Er wirft ihr "markige und/oder pathetische Überschriften nach aussen, fehlende Kommunikation und Misstrauen nach innen" vor – "garniert mit dem völligen Ignorieren des Seelenlebens ihrer eigenen politischen Familie".
Weidenfeld: "Merkel ist deutliche Nummer grösser"
Hat Ursula von der Leyen dennoch das Zeug dazu, nach
Wenn der Professor heute Schulnoten vergeben müsste, würde er Ursula von der Leyen und Charles Michel nach einem Jahr unter ausgesprochen schwierigen Bedingungen mit einer "Zwei minus" für ihre bisherigen Leistungen bewerten.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Peter Becker
- Gespräch mit Prof. Werner Weidenfeld
- Pressemitteilung der Europäischen Kommission: Coronavirus: Kommission fördert und erleichtert die grenzüberschreitende Behandlung von Patienten und die grenzüberschreitende Entsendung von medizinischem Personal
- Welt.de, Gastbeitrag von Dennis Radtke: Wenn Europa sich ändern soll, muss von der Leyen sich ändern
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