Das Klischee vom Wodka-Reich Russland als Nation der stärksten Trinker gerät ins Wanken. Die Russen trinken inzwischen weniger als die Deutschen. Die WHO sieht das Land sogar als Vorbild für andere. Moskaus Politik hat einen guten Grund für den Anti-Alkohol-Kampf.
Seit Jahrzehnten gilt Russland als Nation mit dem grössten Alkoholproblem und einer extrem hohen Sterblichkeit durch Trunksucht. Doch eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bescheinigt der Wodka-Nation nun massive Fortschritte im Kampf gegen den Alkohol.
Der Konsum sei von 2003 bis 2016 um 43 Prozent zurückgegangen, teilte die WHO am Dienstag mit. Zugleich habe sich die Lebenserwartung dramatisch erhöht – von nur 57 Jahren bei Männern noch 1994 auf jetzt 68 Jahre und bei Frauen auf 78 Jahre.
"Wir zerstören hier ein Klischee von Russland", sagte die WHO-Expertin Carina Ferreira-Borges der Deutschen Presse-Agentur. Demnach tranken Russen 2016 nur noch 11,7 Liter Alkohol pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland waren es den WHO-Daten zufolge 13,4 Liter. Gemeint ist jeweils reiner Alkohol. Ein halber Liter Bier enthält etwa 20 Gramm Alkohol. Die Russen trinken meist lieber härtere Sachen wie Wodka.
Suff oft ein tödliches Problem
Schon seit Jahren spricht die russische Politik von Erfolgen im Kampf gegen den Alkohol. Es gibt einen Mindestpreis auf Spirituosen, höhere Steuern, ein nächtliches Verkaufsverbot und strenge Vorgaben für die Werbung.
Zudem ist das lange als Lebensmittel gehandelte Bier seit 2013 auch als Alkohol eingestuft. Doch die WHO-Studie ist die erste Bestätigung von unabhängiger Seite dafür, dass die Erfolge - wie gelegentlich von Kritikern bezweifelt – nachweisbar sind.
Als Mitautorin der Studie hat Ferreira-Borges Unmengen an Datensätzen aus 28 Jahren gesammelt und abgeglichen. "Es passt alles zusammen", sagte sie. Russland könne nun als Vorbild für andere Länder dienen.
Nach Angaben der WHO sterben europaweit jedes Jahr rund eine Million Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum, viele in jungen Jahren. Im flächenmässig grössten Land der Erde ist der Suff oft ein tödliches Problem.
Immer wieder kommt es zu massenhaften Vergiftungen mit gepanschtem oder auch mit Industriealkohol. Ende 2016, Anfang 2017 starben mehr als 70 Menschen in Irkutsk in Sibirien, weil sie einen alkoholhaltigen Badezusatz zu sich genommen hatten.
Fortschritte im Kampf gegen illegale Produktion
Auch russische Experten, die skeptisch sind bei offiziellen Statistiken und gern auf die vielen Selbstbrenner verweisen, räumen bisweilen ein, dass sich wohl wirklich etwas bessere im Wodka-Reich. Die neue WHO-Studie bescheinigt den Behörden nicht zuletzt Fortschritte im Kampf gegen die illegale Produktion.
Nicht nur Präsident
Besonders in den chaotischen, von Hunger und Armut geprägten 1990ern starben Hunderttausende Russen an den Folgen der Trunksucht. Damals stieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Alkoholkonsum bei Männern auf 34 Liter pro Jahr – das entspricht etwa 340 Halbliter-Flaschen Wodka, fast eine pro Tag.
Jede Flasche wird bei Kauf gesondert erfasst
Auch wegen des demografischen Problems sah sich die Politik im flächenmässig grössten Land der Erde zum Handeln gezwungen – gegen den Widerstand der mächtigen Alkohol-Lobby.
Anders als früher setzt die Regierung aber heutzutage nicht mehr auf brachiale Methoden. Unvergessen ist hier etwa eine Anti-Alkohol-Kampagne unter dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow in den 1980ern.
Heute gebe es eine "leise Kampagne", die wohl die erfolgreichste der russischen Geschichte sei, sagte der Geistliche Tichon Schewkunow der Zeitung "Komsomolskaja Prawda". Verboten sei das Trinken in Parks und an öffentlichen Plätzen, lobte der Vorsitzende eines Gremiums in der staatlichen Behörde zur Regulierung des Alkoholmarktes.
In Supermärkten wird - auch zur Freude der WHO - inzwischen jede Flasche beim Verkauf über ein elektronisches System gesondert für die Nachverfolgung erfasst.
Weitere Schritte der Politik
Die WHO-Experten betonten zwar auch, dass die russischen Werte weiter zu den höchsten in Europa gehörten. Trotzdem könnten die bisherigen Erfolge Ansporn für andere Länder sein, sich dem WHO-Aktionsplan im Kampf gegen den gefährlichen Alkoholkonsum anzuschliessen. Vor allem auf Preiserhöhungen schwört die WHO. Aber nicht nur.
Ferreira-Borges bringt es auf die einfache Formel: "Je stärker die Politik die Alkohol-Kontrolle umsetzt, desto steiler ist der Rückgang bei der Sterblichkeit." Auch das Beispiel Russland zeigt demnach, dass es in der Geschichte ein Auf und Ab gab.
Die Wissenschaftlerin hofft jetzt, dass die Politik weitere Schritte unternimmt. Schon seit längerem geplant ist etwa, die Altersgrenze für Höherprozentiges in Russland auf 21 Jahre heraufzusetzen. Das soll vor allem die Sterblichkeit bei jungen Trinkern weiter senken. © dpa
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