Ein Laden für Arme in der reichen Schweiz? Einer der Gründer des ersten Caritas-Marktes in Basel erzählt uns die Geschichte eines "Skandals", der mit der Zeit zur unerlässlichen Stütze für tausende Personen wurde.

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"Schauen Sie, etwas ist geblieben", sagt Christoph Bossart und zeigt auf eine Inschrift an einer Gebäudefassade. Auf dem Schild steht der Name des ersten Lebensmittelladens der Schweiz für Arme, der 1992 eingeweiht wurde.

"Ursprünglich hiess der Laden 'Carisatt', eine Neuschöpfung aus den Worten 'Caritas' und 'satt'. Doch nicht alle haben das Wortspiel geschätzt, und heute sprechen wir einfach von Caritas-Märkten", erzählt Bossart.

Wir befinden uns in Kleinbasel, jenem Teil der historischen Altstadt Basels, der sich auf der Nordseite des Rheins befindet. In diesem lebhaften Gebiet mit vielen Ausländerinnen und Ausländern hat es zahlreiche Restaurants, Bars und Geschäfte aller Art. Darunter auch einen unscheinbar aussehenden Laden, wo die Preise nur halb so hoch sind wie jene im Detailhandel.

Es ist ein Caritas-Laden, der sich ein paar Strassen weiter vom ersten "Carisatt" befindet. Mit der Zeit wurde das Sortiment erweitert, und in den Regalen findet man so ziemlich alles, von frischen Früchten bis zu Parfum.

Das Ziel ist jedoch noch immer das Gleiche: "Personen mit bescheidenem Budget entlasten, damit sie ihre Einkäufe ohne zu grosse Ausgaben machen können. Mit dem gesparten Geld können sie sich ein Paar neue Schuhe oder einen Kinoeintritt leisten. Das ist wichtig, um Teil der Gesellschaft zu bleiben", erklärt Bossart.

"Neue" Arme

Christoph Bossart, inzwischen pensioniert, hat während zwei Jahrzehnten für die katholische Hilfsorganisation gearbeitet und gehörte zu den Gründern des ersten Caritas-Ladens. "Schon damals gab es Personen, die sich in Not befanden, weil sie keine Arbeit hatten oder krank waren", erinnert er sich.

Seit den 1990er-Jahren gibt es eine neue Form von Armut. "Immer mehr Personen können nicht mehr für ihren Lebensunterhalt aufkommen, obwohl sie eine Anstellung haben. Dazu kommen die Langzeitarbeitslosen, alleinerziehende Mütter und Leute mit einem niedrigen Ausbildungsniveau."

Gemäss einem offiziellen Bericht von damals, der für einiges Aufsehen sorgte, waren im Kanton Basel-Stadt etwa 20'000 Personen von dieser neuen Art von Armut bedroht, einer von zehn. Wie konnte man ihnen helfen?

Das französische Modell

Die Antwort fand sich in einem Artikel einer Kirchenzeitung. "Der Artikel handelte von der 'Banque Alimentaire' in Frankreich, bei der abgelaufene Lebensmittel gesammelt und an karitative Strukturen zur Unterstützung von Bedürftigen verteilt wurden", erzählt Bossart, der sich persönlich nach Paris begab, um das Projekt vor Ort zu besichtigen.

Der Caritas-Mitarbeiter war sich bewusst, dass das französische System nicht tel quel in die Schweiz exportiert werden konnte. "Es basierte hauptsächlich auf ehrenamtlicher Arbeit, was in der Schweiz, oder besser gesagt in den Deutschschweizer Kantonen, noch nicht verbreitet war", erklärt Bossart.

Auch die kostenlose Abgabe der Waren durch die Banque Alimentaire entsprach nicht der Philosophie der Basler Caritas-Abteilung. "Wir wollten keine Geschenke machen. Wir wollten den Leuten die Möglichkeit lassen, auszuwählen und Einkäufe zu erschwinglichen Preisen zu machen. Wir wollten nicht, dass die Käufer um Almosen bitten mussten", sagt Bossart.

Schokolade dank eines Fehlers

Zurück in der Schweiz nahm Bossart Kontakt mit Produzenten und lokalen Grossisten auf. "Das Ziel war, gratis oder günstig zu unverkäuflichen aber immer noch konsumierbaren Waren zu kommen.

Für die Produzenten hatte das einen Vorteil: Sie mussten nicht für die Vernichtung von Überschüssen bezahlen. Die grossen Detailhändler hingegen reagierten zurückhaltend. Sie fürchteten, einen Teil der Kundschaft zu verlieren und wollten die Kontrolle über die Qualität ihrer Produkte behalten."

Am Basler Sitz der Caritas trafen bald die ersten Lieferungen ein: Falsch etikettierte oder eingedrückte Konserven, Lebensmittel nahe am Verfallsdatum, aus dem Sortiment genommene Produkte oder Artikel mit Produktionsfehlern.

Zu Beginn war es Bossart selbst, der mit seinem Kastenwagen Schachteln mit Bananen oder Bonbons einsammelte. "Einmal bekamen wir Qualitätsschokolade von einem bekannten Schweizer Fabrikanten. Er hatte eine neue Linie auf den Markt gebracht, die allerdings von den Konsumenten schlecht aufgenommen wurde. Dank dieses Fehlers konnten wir die Schokolade den Armen zur Verfügung stellen."

Der Erfolg eines "Skandals"

Die Eröffnung des ersten Caritas-Ladens am 1. Juli 1992 blieb nicht unbemerkt, wie sich Bossart erinnert. "In der Schweiz und international gab es ein grosses Medienecho. Einige Zeitungen schrieben, dass ein Laden für Arme in einem reichen Land wie der Schweiz ein Skandal sei."

Die öffentliche Meinung sei geteilt gewesen, fügt er an. "Einige prangerten die Versorgung der Armen mit Ramschwaren, mit Abfällen an", erzählt Bossart, für den der Caritas-Laden über einen einfachen Quartierladen hinausgeht. "Er ist auch ein Begegnungsort, wo die Leute Trost und Unterstützung erhalten. Aber vor allem ermöglicht der Laden, der Armut ein Gesicht zu geben."

Immer mehr Menschen wagten sich in den Laden. "Zu Beginn richteten wir uns vor allem an Schweizer. Aber schnell verlagerte sich der Schwerpunkt auf Migranten und Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien." Was als Pilotprojekt begann, entwickelte sich in kurzer Zeit zu etwas Grossem: 1994 wurden ähnliche Läden in Luzern, St. Gallen und Bern eröffnet.

Dank einer Vereinbarung mit einer grossen Transportfirma und der Professionalisierung des Projekts – mit einer Zentralgenossenschaft, die sich um die Logistik kümmerte – breitete sich die Ladenkette in der ganzen Schweiz aus. An den 24 Verkaufsorten arbeiten – je nach Kanton – Teilzeitmitarbeiter, Arbeitslose oder Freiwillige.

13 Millionen Franken Umsatz

2015 betrug der Umsatz der Caritas-Läden insgesamt über 13 Millionen Franken. In einem Jahr wurden 1,3 Millionen Liter Milch, 140'000 Kilo Mehl und 240'000 Kilo Zucker verkauft.

Trotz des wachsenden Erfolges ist Christoph Bossart nicht zufrieden. Jetzt, da er sich nicht mehr um die Buchhaltung des Ladens in Basel kümmern muss, beobachtet er die Entwicklung aus einer anderen Perspektive. "Die wachsende Anzahl Läden und der steigende Umsatz sind eigentlich schlechte Neuigkeiten. Es wäre besser, wenn wir die Läden nicht bräuchten", sagt er.

Das Auftauchen neuer Harddiscounter findet er positiv. "Wenn mehr günstige Waren angeboten werden, hilft das den Leuten in schwierigen Verhältnissen."

Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi

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