- Wie eine "wahre Seuche" greife der Enkeltrick um sich, beobachten Experten.
- Regelmässig warnt die Polizei - und doch schaffen es Kriminelle immer häufiger, Senioren um ihr Geld zu bringen.
- Das Perfide dabei: Opfer werden ausgerechnet Menschen, die helfen wollen.
Es beginnt immer ganz harmlos. Das Telefon klingelt und der Anrufer meldet sich mit den Worten: "Rate mal, wer hier ist." Bei einem solchen Gesprächsauftakt sollten bei den Angerufenen die Alarmglocken schrillen. "Seien Sie misstrauisch, wenn sich jemand am Telefon nicht selbst mit Namen vorstellt. Es könnte sich um einen Enkeltrick-Betrüger handeln", sagt Matthias Rascher, Pressesprecher des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern.
Der Trick zählt zu den häufigsten Betrugsmaschen, vor denen immer wieder gewarnt wird. Anrufer melden sich als Verwandte, aber auch als Polizisten, Bankmitarbeiter oder Notare. "Sie gaukeln den Angerufenen vor, ein Verwandter bräuchte dringend Geld für den Kauf einer Wohnung, eines Autos oder zur Regulierung eines Unfallschadens", erläutert die Pressesprecherin des LKA Sachsen, Kathlen Zink.
"Seit Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 geben sich die Anrufer oft auch als Klinikmitarbeiter aus und behaupten, ein Angehöriger sei schwer an Corona erkrankt und benötige ein teures Medikament aus dem Ausland", sagt Zink. Allein in Sachsen wurden nach LKA-Angaben 2020 79 solcher Corona-Schockanrufe registriert. Insgesamt wurden in Sachsen 1.078 Straftaten gegen ältere Menschen erfasst, die von überregional agierenden Tätern oder Tätergruppen im häuslichen Umfeld begangen wurden.
Erfinder machte den Enkeltrick zur "wahren Seuche"
"Der Enkeltrick ist eine deutsche Erfindung mit inzwischen internationaler Verbreitung", fasst der Soziologe Christian Thiel zusammen, der an der Uni Augsburg unter anderem die Hintergründe von Betrugstaten erforscht. In der Schweiz und in Österreich sei die Masche als Neffentrick bekannt, im angelsächsischen Sprachraum als "grandparents scams", sagt er.
"Als Erfinder dieser Betrugsmasche, die Ende der 1990er Jahre erstmals registriert wurde, gilt Arkadiusz 'Hoss' Lakatosz", sagt Thiel. Der habe eine schon in den 1950er Jahren existierende, vorwiegend auf Aussiedler aus Osteuropa zielende Strategie aufgegriffen und ausgebaut. "Er hat eine logistische Infrastruktur geschaffen, die den Enkeltrick seit den frühen 2000er Jahren zu einer wahren Seuche werden liess", beklagt Thiel.
Auch das LKA Schleswig-Holstein berichtet von deutlich gestiegenen Fallzahlen. "2016 waren es noch 396 Fälle, davon 377 versuchte Taten, der Gesamtschaden betrug knapp 407.000 Euro", sagt Pressesprecher Uwe Keller. "2020 waren es schon 1.033 Fälle mit einem Gesamtschaden von etwa 944.000 Euro und in den ersten fünf Monaten 2021 waren es bereits 368 Fälle", stellt Keller fest. Bundesweite Zahlen gibt es nicht, da der Enkeltrick oft in den Kriminalstatistiken nicht als eigene Deliktgruppe erfasst wird.
Senioren glauben zu helfen - und werden um ihr Erspartes gebracht
Der materielle Schaden ist oft hoch. So ergaunerten Enkeltrick-Betrüger in Nordrhein-Westfalen 15.000 Euro von einer 82-Jährigen, die glaubte, mit dem Geld ihrer Enkelin beim Kauf einer Wohnung zu helfen. Das Geld hatte die alte Dame eigentlich für ihre Beerdigung gespart.
Im Landkreis Stade in Niedersachsen erhielten nach Polizeiangaben Anfang Juni mindestens zehn ältere Menschen Anrufe, in denen Summen von bis zu 30.000 Euro in bar für ein Medikament für ein an Corona erkranktes Familienmitglied gefordert wurden. Die meisten Angerufenen beendeten das Gespräch nach Polizeiangaben allerdings sofort, bei einer 87-jährigen Frau aus Stade verhinderte eine aufmerksame Bankmitarbeiterin das Geldabheben.
Opfer fühlen sich sicher und wollen sich sozial verhalten
Doch warum fallen trotz aller polizeilichen Aufklärungsarbeit immer wieder ältere Menschen auf die Betrüger rein? "Die Täter entwickeln eine effiziente Täuschungs-Choreographie, die die Opfer überzeugt", erklärt Thiel. "Sie verfügen über eine Art Werkzeugkasten mit typischen Täuschungstaktiken, die sie wie Bausteine zu unterschiedlichen Betrugsmaschen zusammensetzen."
Einen weiteren Grund nennt Frank Scheulen vom LKA Nordrhein-Westfalen. "Viele Senioren fühlen sich in ihren eigenen vier Wänden sicher, so dass sie vorhandenes und in Teilen schon verinnerlichtes Wissen ausser Acht lassen", meint Scheulen.
Ausserdem seien die Anrufer rhetorisch routiniert und anpassungsfähig, was bei den Opfern wegen der vermeintlichen Notsituation Stress verursache. "Dazu kommen oft eine tief verankerte Hilfsbereitschaft, ausgeprägtes Sozialverhalten und Respekt gegenüber vorgeblichen Amtspersonen", beobachtet Scheulen. "Alles zusammen ist der Schlüssel zur systematischen perfiden Ausbeutung von Seniorinnen und Senioren". (Eva-Maria Mester, dpa/af)
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