Stress komplett aus dem Leben verbannen zu wollen, ist ein unsinniger Ansatz. In der richtigen Dosierung ist er lebensnotwendig und setzt positive Energie frei, die uns zu besseren Leistungen antreibt. Doch warum fühlen wir uns dann so häufig überfordert? Wir haben mit dem Psychologen und Unternehmenscoach Louis Lewitan gesprochen. Der Stress-Experte erklärt, dass wir selbst unsere Vorgesetzten dazu erziehen, uns immer mehr Arbeit aufzubürden. Doch auch Chefs bekommen ihr Fett weg - denn ein schlechter Führungsstil lässt sich nicht mit Obstkörben als betrieblichem Gesundheitsmanagement ausgleichen.
Herr Lewitan, Sie sind Experte, wenn es um das Thema Stress geht. Die Arbeitsbedingungen unserer Grosseltern waren doch deutlich härter? Warum fühlen wir uns heutzutage so oft überfordert?
Auf der einen Seite geht es um den persönlichen Umgang mit Stress. Es gibt auf der anderen Seite neue Stressquellen, die unser Leben komplexer erscheinen lassen. Um den Durchblick zu wahren, braucht man Zeit - ein knappes Gut in dieser beschleunigten Welt. Zudem fallen viele Aufgaben zeitgleich an, die wir oft nicht zu Ende führen, weil wir ständig unterbrochen werden. Erschwerend hinzu kommen die permanente Erreichbarkeit und die viele Arbeit, die wir häufiger mit nach Hause nehmen.
Wie sehr man sich auf diese Anforderungen einlässt, bestimmt man letztlich aber selbst. Wo zieht man die Grenze?
Man muss zunächst die eigenen Ziele hinterfragen. Sind diese nicht realistisch, sondern zu hoch angesetzt, dann fühlt man sich gestresst. Um das rechtzeitig zu merken, muss man die eigene Wahrnehmung schärfen. Die wenigsten nehmen sich die erforderliche Zeit, über die Stressursachen zu reflektieren. Das heisst, anzuhalten und zu fragen: "Wie geht es mir überhaupt?". Wenn wir die Signale, die uns der Körper sendet, übergehen, dann drohen wir vermeintlich ganz plötzlich an Burnout zu erkranken. Es ist aber kein plötzliches Erkranken, sondern ein langer Prozess.
Die Symptome sind anfänglich wahrscheinlich sehr subtil. Auf welche Signale sollte man achten?
Symptome für ungesunden Stress sind, sich im eigenen Körper nicht mehr wohl zu fühlen, sondern antriebs- und freudlos zu sein. Man ist ständig angespannt, ungeduldig und fühlt sich überfordert. Darüber hinaus kann man sich schlechter konzentrieren, der Gedankengang wird sprunghaft, die Kreativität versiegt.
Reicht es dann, sich einen Abend gemütlich auf die Couch zu legen und abzuschalten?
Ein entspannter Abend kann eine falsche Lebenshaltung nicht ausbügeln. Wenn man mit unveränderter Einstellung fortfährt, wird sich auch an den Symptomen nichts ändern. Man sollte gezielt schrittweise Veränderungen herbeiführen.
Zunächst in der persönlichen Einstellung?
Ja, weil sie die Intensität der äusseren Stressfaktoren reguliert. Zugleich ist es wichtig, die eigenen Erwartungen und Bedürfnisse zu kommunizieren. Das kann bedeuten, zu sagen: "Das geht nicht", und diesen Standpunkt dem Vorgesetzten nachvollziehbar zu machen. Aus Angst vor Konsequenzen sehen sich manche Arbeitnehmer aber nicht im Stande, eine Grenze zu setzen. Sie erbringen die Leistung, die man von ihnen erwartet, ohne jedoch Zeit zu haben, sich zu erholen. Sie gehen über ihre Grenzen hinaus, ärgern sich und stressen letzten Endes sich selbst.
Ist diese Angst, die Erwartungen des Chefs zu enttäuschen, nicht auch gerechtfertigt?
Vorgesetzte erwarten stets mehr als Mitarbeiter in der Lage sind, zu erfüllen. Dabei findet ein interessanter Lernprozess statt: Wenn ein Vorgesetzter gewohnt ist, dass ein Mitarbeiter die Ziele übererfüllt, erzieht der Mitarbeiter seinen Vorgesetzten dazu, ihm noch mehr Arbeit aufzubürden. Mit der Zeit verliert der Arbeitnehmer die Fähigkeit, sich zu regenerieren.
Eine Karriere klappt aber meist nur, wenn man eine Zeit lang die Zielvorgaben des Vorgesetzten übererfüllt. Wie sorgt man für die richtige Balance?
Man muss sich selbst fragen: "Wie wichtig ist es mir, die Ziele zu erfüllen? Was ist der Preis, den ich dafür zahle?" Das ist eine Kosten-Nutzen-Evaluierung. Wenn man über einen längeren Zeitraum sehr viel gegeben hat und dadurch seine Ziele erfüllt oder übererfüllt hat, muss man wieder kürzer treten. Immer Vollgas zu geben, führt zum Burnout.
Reicht es, die Mitarbeiter zu belohnen, um eine solche Überforderung auszugleichen?
Es gibt unterschiedliche Formen der Belohnung. Im Hinblick auf die Motivation sind diese aufgrund von vertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen nicht immer sehr originell. Zum Beispiel glauben wir oft, Geld sei die wichtigste Motivationsquelle. Das ist Unfug. Auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit ist wesentlich: Stehe ich hinter meiner Arbeit und sehe einen Sinn in ihr?
Wir fühlen uns also weniger gestresst, wenn wir in unserer Arbeit Sinn sehen?
Definitiv. Wenn ich aus meiner Arbeit einen Sinn ableiten kann, bin ich gewillt, auch mal eine Extrameile zu gehen. Statt durch Geld könnte die Motivation dann durch Anerkennung der Leistung, aber auch durch Wertschätzung der Person erfolgen.
Was könnte die Firma beispielsweise tun?
Nicht jeder braucht dieselbe Art von Belohnung. Eine alleinerziehende Mutter fühlt sich vielleicht wertgeschätzt, wenn man ihr flexible Arbeitszeiten ermöglicht. Der Arbeitgeber könnte dem Mitarbeiter auch Zeit zur Erholung einräumen. In den meisten Fällen sieht es aber so aus, dass der Mitarbeiter sich dafür selbst einen Urlaubstag leisten muss. Das finde ich demotivierend.
Manche Firmen wollen gestresste Mitarbeiter unterstützen, indem sie beispielsweise sportliche Aktivitäten finanzieren. Was halten Sie davon?
Ich verstehe unter betrieblichem Gesundheitsmanagement etwas anderes, als einen Obstkorb hinzustellen oder Gutscheine fürs Fitnesscenter zu verteilen. Das alles schadet sicherlich nicht. Es ist nur die Frage, ob es tatsächlich dazu führt, dass die Mitarbeiter weniger Stress haben. Obstkörbe machen einen schlechten Führungsstil nicht wett. Gutscheine fürs Fitnesscenter sind kein Ausgleich für fehlende Ressourcen. Ich glaube, dass ein massiver Stressfaktor die mangelhafte Führungsqualität ist.
Worauf sollten Führungskräfte achten?
Führungskräfte werden viel zu wenig darin geschult, mit dem eigenen Stress und dem ihrer Mitarbeiter umzugehen. Probleme werden unter den Teppich gekehrt, bis sich massive Störungen einstellen und Teams nicht mehr funktionieren. Schwierig ist es auch, wenn der Vorgesetzte ständig auf Achse ist. Er verliert dann den Bezug zu seinem Team. Er sollte stattdessen dafür sorgen, dass seine Mitarbeiter mit sich selbst so gut umgehen, dass sie weiterhin produktiv sein können.
Was raten Sie Berufstätigen, die unter dem Führungsstil ihres Vorgesetzten leiden, sich aber nicht trauen, etwas zu sagen?
Sie sollten sich fragen: Macht es Sinn, dass ich mich weiterhin so verhalte, wie bisher? Die Antwort ist: Nein. Denn dann wird keine positive Veränderung stattfinden. Man kann nicht einfach vom Chef erwarten, alles zu spüren, alles zu wissen und für alles eine Lösung zu haben. Auch der Mitarbeiter hat die Verantwortung, zu sagen, was er braucht, um besser zu arbeiten.
Und wenn der Vorgesetzte trotzdem nichts ändert?
Dann sollte der Mitarbeiter hartnäckig bleiben. Hier ist nicht die Provokation das Ziel, sondern die Verbesserung. Um sich abzusichern, sollte man sich auch mit seinen Kollegen austauschen, um auszuschliessen, dass das Problem an einem selbst liegt. Wenn es den Kollegen ähnlich ergeht, dann sollte man dem Chef gegenüber gemeinsam formulieren, welche Veränderungen sinnvoll sind. Leistung besteht aus einem Geben und Nehmen. Da sind wir alle in der Verantwortung.
Herr Lewitan, vielen Dank für das Gespräch.
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