München - Der Vorschlag der Kollegen ist blödsinnig, das Meeting Zeitverschwendung, der Vorgesetzte hat die Präsentation verschlimmbessert - und eigentlich habe ich heute auch ganz andere Dinge im Kopf. Das alles würden Sie eigentlich gerne laut sagen? Wetten, Sie tun es nicht?
Denn wer will schon bei Kollegen anecken, die Chancen bei der nächsten Gehaltsrunde schmälern - oder gar die Vorgesetzten gegen sich aufbringen? Stattdessen schlucken die meisten Menschen unangenehme Gefühle lieber runter.
Doch geht man häufig völlig frustriert nach Hause, stellt sich die Frage: Muss das wirklich so sein? Hier setzt das Konzept "Radikale Ehrlichkeit" an.
Was ist "Radikale Ehrlichkeit"?
Ursprünglich entwickelt hat das Konzept der US-amerikanische Psychotherapeut Brad Blanton. Es verspricht, soziale Beziehungen zu erleichtern und sogar mehr Nähe zu schaffen - und zwar indem man bewusst keine Notlügen mehr erzählt.
"Radikale Ehrlichkeit bedeutet, transparent mit seinem Gegenüber sein zu wollen, seine Gefühle, Gedanken und auch Wünsche zu teilen", erklärt Christoph Fink, Coach für "Radikale Ehrlichkeit". "Meistens lügen wir aus Angst vor Ablehnung oder Beschämung." Die Überzeugung, lügen zu müssen, belaste uns aber und löse lang anhaltenden Stress aus. Mit radikaler Ehrlichkeit soll das vermieden werden.
"Es handelt sich bei Radikaler Ehrlichkeit eher um ein philosophisches Konzept, das verschiedene Aspekte aufgreift", erklärt der Arbeits- und Organisationspsychologe Ludwig Andrione. Ein Thema der psychologischen Forschung sei "Radikale Ehrlichkeit" nicht.
Bedeutet radikal ehrlich zu sein, andere auch zu verletzen?
"Der Begriff wird oft falsch verstanden und mit brutaler Ehrlichkeit verwechselt", so Anna Haas, die seit 2019 als Coachin für "Radikale Ehrlichkeit" arbeitet. "Es geht hier aber nicht um eine rücksichtslose Meinungsäusserung."
Stattdessen müsse man sich bewusst machen, dass man jede Situation durch eine persönliche Brille beurteilt. Es gehe darum, zwischen der Handlung, die man selbst wahrnimmt, und dem, was man in sie hineininterpretiert, zu trennen. "Dann kann ich mich auf den Moment und mein Gegenüber unvoreingenommen einlassen", sagt Haas.
Und wie ist man nun radikal ehrlich im Job?
"Entscheidend ist vor allem, wie ich meine Gefühle zum Ausdruck bringe", sagt Anna Haas. Seinem Kollegen etwa zu sagen: "Nimm‘s mir nicht übel, aber ich fand meinen Vorschlag besser als deinen", kann herablassend wirken. Im Sinne der radikalen Ehrlichkeit steht man stattdessen zu seinen eigenen Ängsten. Dann könnte man laut Haas etwa sagen: "Ich habe Angst, dass du mich für arrogant hältst, wenn ich das sage. Aber ich fand meinen Vorschlag besser als deinen und ärgere mich, dass der Chef deinen genommen hat."
Natürlich kann es dann sein, dass der Kollege einen trotzdem für arrogant hält. "Ebenso könnte aber auch ein tolles, verbindendes Gespräch entstehen, das einen einander näher bringt", sagt Haas. "Spricht man solche Sachen hingegen nie aus, geht man auf Distanz zu der Person, man lässt die Beziehung versauern und man selbst verbittert dabei." Radikale Ehrlichkeit helfe, wieder mehr Nähe und Verbundenheit zu seinen Mitmenschen aufzubauen.
"Natürlich riskiere ich durch radikale Ehrlichkeit jemanden zu verletzen und ein Höchstmass an Unbehagen bei mir und den anderen auszulösen", gibt Fink zu Bedenken. Er rät deshalb, einen geeigneten Rahmen für radikale Ehrlichkeit zu schaffen. Das kann man etwa, indem man eine ruhige Gesprächssituation wählt. Wichtig: Das Gespräch sollte am besten persönlich stattfinden. Von radikal ehrlichen Telefonaten und Textnachrichten rät Fink ab. Zur Not greife man besser zum Video-Call.
Was sollte ich beachten, wenn ich radikal ehrlich sein will?
"Wer radikale Ehrlichkeit anwenden möchte, muss strikt zwischen Ehrlichkeit und Wahrheit unterscheiden können", so der Arbeits- und Organisationspsychologe Ludwig Andrione. Wahrheit bezeichne die tatsächlichen Umstände einer Situation. Ehrlichkeit beziehe sich hingegen nur auf die eigene Wahrnehmung. "Ist das nicht der Fall, kann das Konzept durchaus gefährlich und verletzend werden, insbesondere, wenn Menschen sich in einem unsicheren Umfeld aufhalten", warnt Andrione.
Der Psychologe verweist hier auf das Konzept der "Psychological Safety". "Menschen müssen sich in ihrem Umfeld sicher fühlen und wissen, dass sie für einen Fehler nicht von ihren Mitmenschen fertiggemacht werden", so Andrione. "Dann können sie sich auch öffnen." Gerade der Arbeitsplatz wird aber nicht immer als ein sicheres Umfeld wahrgenommen. Hier gilt deshalb: Besser nicht zu ehrlich werden.
Ausserdem kann man sich auch selbst schützen. Man muss nichts teilen, was man nicht teilen möchte, so Anna Haas. "Ob man etwa seine Depression oder Therapie bei den Kollegen anspricht, ist eine persönliche Entscheidung."
Es kann befreiend sein, solch sensible Themen bei den Kollegen zur Sprache zu bringen. Oft reagiere das Umfeld zudem verständnisvoller, als man denkt, so Haas. "Natürlich bin ich mir trotzdem bewusst, in welchem Kontext ich mich bewege und kann auch abwägen." Hier hilft es sich zu fragen: Wie hoch ist der Preis für mich, wenn ich das Thema nicht anspreche?
Denn letztendlich gilt: Sich ehrlich mitzuteilen, kann zwar mehr Vertrauen und Nähe schaffen. Im beruflichen Kontext ist es aber wichtig, sich vorher darüber klar zu sein, wo man diese Nähe will. © dpa
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