Der Fall des 20-jährigen Nenad M. sorgt derzeit für Schlagzeilen. Der ehemalige Förderschüler sieht sich zu Unrecht als geistig behindert eingestuft und verklagt deshalb das Land Nordrhein-Westfalen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.

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Ein Schüler klagt gegen das Land Nordrhein-Westfalen: Durch die Einstufung als geistig Behinderter seien ihm Bildungs- und Karrierechancen verwehrt geblieben, argumentiert Nenad M. vor dem Kölner Landgericht.

Der junge Mann fordert vom Land Nordrhein-Westfalen deshalb Schadenersatz und Schmerzensgeld. Er war als Kind als geistig behindert eingestuft worden und besuchte deshalb elf Jahre lang eine Förderschule.

Testverfahren in Bundesländern unterschiedlich

Doch wie wird eigentlich die Diagnose der geistigen Behinderung gestellt? Dr. Frederik Poppe ist wissenschaftlicher Referent bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe: "Durch die Hoheit der Länder im Bildungsbereich sind die Einstufungstests in jedem Bundesland anders. Meist sind diese Tests klassische Intelligenztests. Die Herangehensweise unterscheidet sich nicht nur in den Bundesländern, sondern auch regional."

Dass bei der Einstufung des 20-jährigen Nenad M. etwas schief gelaufen sein könnte, hält Dr. Frederik Poppe für nicht unwahrscheinlich: "Manchmal sind die Testverfahren nicht geeignet für Personen mit Migrationshintergrund. Wenn bei den Kindern zuhause kein Deutsch gesprochen wird, werden Abweichungen von der Durchschnittsleistung eines Altersjahrgangs eher diagnostiziert. Dann hängt das Ergebnis weniger mit einer Lernschwäche als vielmehr mit einem Problem in der Kommunikation zusammen."

Geistig behindert mit einem IQ unter 70

Das grösste Problem sieht der Experte darin, dass die Grenze zwischen einer einfachen Lernschwäche und einer geistigen Behinderung einer gewissen Willkür unterliegt. "In den Testverfahren wird dem IQ noch immer zu viel Wichtigkeit beigemessen. Bisher gelten Personen, die einen IQ von unter 70 haben als geistig behindert. Davon nimmt man in vielen Bundesländern inzwischen Abstand", so Poppe.

Dazu komme, dass nicht flächendeckend eine inklusive Diagnostik durchgeführt werde, mit der der individuelle Bedarf ermittelt werden kann. Verantwortliche seien oft überfordert mit der Masse an zu betreuenden Schülern oder der zur Verfügung stehenden Zeit, so der Experte. Grundsätzlich sollte eine Einstufung regelmässig überprüft werden. "Das ist vor allem wichtig, um zu sehen, in welchen Bereichen sich etwas verändert", so Poppe.

Im Fall von Nenad M. könnte jedoch auch bei den nachfolgenden Tests etwas schiefgelaufen sein. "Es ist vermutlich nicht der Regelfall, dass eine solche Einstufung nicht stimmt. Aber es gibt immer wieder Einzelfälle, bei denen prozessorientierte Diagnostik mit zu wenig Zeit oder zu ungenau vorgenommen worden ist. Das kann wiederum auch damit zusammenhängen, dass nicht in jedem Bundesland ausreichend Budget oder Personal für eine ausführliche Diagnostik zur Verfügung steht."

Besserer Zugang zu Förderung

Allerdings kommen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung nicht nur Nachteile: Betroffene können durch die Diagnostik einen leichteren Zugang zu Ressourcen und auch zu Förderungen bekommen.

"Das reicht von Förderstunden sowie finanzieller Unterstützung bis hin zu technischen Hilfsmitteln. Ausserdem kann ein Nachteilsausgleich gewährt werden. Das heisst, dass zum Beispiel in Prüfungen aufgrund einer Behinderung Teile nicht gewertet werden oder mehr Zeit zur Verfügung steht", erklärt Poppe.

Problematisch sieht der Experte jedoch die Stigmatisierung, die eine geistige Behinderung mit sich bringt. "Alleine den Begriff 'geistige Behinderung' sollte man überdenken, da dieser den Kindern einen Stempel aufdrückt, der sie lange Zeit begleitet."

Auswirkungen auf Berufschancen

Über die Notwendigkeit von Förder- oder Sonderschulen wird in Deutschland schon lange diskutiert. Die Lebenshilfe setzt sich vor allem für die Inklusion ein – also dass geistig behinderte Kinder eine Regelschule besuchen können. Auf Förder- und Sonderschulen gibt es in der Regel keine Noten und damit auch keinen anerkannten Schulabschluss. Das kann durchaus Folgen haben, wenn es um Berufschancen geht.

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine allgemeine Schule besuchen, steigt aber seit Jahren kontinuierlich an. Kinder mit Förderbedarf in Nordrhein-Westfalen haben jedoch zum Beispiel erst seit dem Jahr 2014 einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer Regelschule.

Nenad M. hatte in den elf Jahren Förderschule keinen Abschluss erlangt, holt diesen aber an einem Berufskolleg nach. "Einige Menschen mit einer geistigen Behinderung haben trotz allem einen Schulabschluss und gehen einem Beruf nach. Es gibt aber trotz allem einen höheren Anteil an echter Armut bei Menschen mit Behinderung."

Um einem Ungerechtigkeitsgefühl und einer Stigmatisierung entgegenzuwirken, plädiert Poppe dafür, die Inklusion in Deutschland noch weiter voranzutreiben und in eine Diagnostik und Förderung zu investieren, deren Ziel Gleichberechtigung bei schulischer Bildung ist.

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