Berlin - Sie schafft Vertrautheit, vermittelt Heimatgefühl: die Muttersprache. Sie ist die erste, die man als Kind hört und lernt, sie geht bald mühelos von der Zunge.
Muttersprachen spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung kultureller Identitäten, bei der Einbindung in Gemeinschaften und bei der Bewahrung kulturellen Erbes. Die Forschung zeigt aber auch: mehr Sprachen, mehr Chancen.
Muttersprache - Vatersprache
Im Deutschen wird die erste gelernte Sprache als Muttersprache bezeichnet. Der Wiener Sprachwissenschaftler Stefan-Michael Newerkla erläutert, dass der Begriff "auch stark ideologisch konnotiert ist, weil er Sprache gleichsam auf Abstammung zurückführt". Er beinhalte nicht nur die Vorstellung, dass jemand die Sprache der (leiblichen) Mutter erlerne, sondern auch, dass das Teil einer natürlichen Ordnung sei. Ethnischen Gruppen werde somit jeweils eine bestimmte Sprache zugewiesen. In der Geschichte sei zudem der Terminus sermo patrius ("väterliche Sprache") für das Latein als Bildungssprache verstanden worden, während die lingua materna ("mütterliche Sprache") eher für die ungesteuerten Lernprozesse im Kontakt mit der Mutter stand.
Es kann nur eine geben? Mitnichten.
Wer als Kind mit zwei Sprachen aufwächst, gilt als bilingual. Das betrifft Millionen Kinder, auch in Deutschland. Meist haben sie Eltern verschiedener Herkunft, die den Nachwuchs in ihren jeweiligen Sprachen ansprechen. Die Experten vom Bielefelder Institut für frühkindliche Bildung versichern, dass dies kein Nachteil sei. Wie die allermeisten Kinder sprechen sie mit etwa einem Jahr ihre ersten Wörter, bilden mit etwa 18 Monaten Zweiwortsätze und können mit drei Jahren längere Sätze bilden.
Es gibt aber Unterschiede: Einerseits beeinflussten sich die Sprachen gegenseitig bei der Aussprache - russisch-deutsch-sprachige Kinder rollten zum Beispiel das R auch dann, wenn sie Deutsch sprechen. Zudem würden die Sprachen häufig gemischt. "Ich gehe zum playground" oder "I have my brother gesawt" sind Beispiele dafür. Die Forscher sind überzeugt, dass eine solche Sprachmischung "eine sehr kreative Nutzung der gesamten sprachlichen Kompetenz ist" - und eben kein Defizit.
Viele Sprachen, aber keine richtig?
Studien widerlegen den oft geäusserten Eindruck, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder überfordert sind und keine ihrer Sprachen richtig beherrschen. Wer schon seit früher Kindheit mit zwei oder mehr Sprachen aufwächst, kann die Fähigkeiten in einer Sprache für andere Sprachen nutzen, fassen Wissenschaftler des Mercator-Instituts für Sprachförderung die Forschungsergebnisse in einem Faktencheck zusammen. So hätten Kinder, die in ihren beiden ersten Sprachen gut lesen können, "ein stärker ausgeprägtes metasprachliches Bewusstsein, das sie vorteilhaft für das Lesen in der dritten Sprache einsetzen können".
Statt Sprachbildung Bildungssprache
Für jedes dritte Kind weltweit bedeutet die Einschulung den Eintritt in eine sprachlich fremde Umgebung. Nach Zählung der Sprachenforscher der Nichtregierungsorganisation SIL verbringen etwa 35 Prozent der Kinder ihre Schulzeit in Klassenzimmern, in denen die Unterrichtssprache (language of instruction) nicht die Sprache ist, die sie zu Hause sprechen - das schränke ihre Erfolgschancen deutlich ein. Die ärmsten und schwächsten Bevölkerungsgruppen etwa im Norden Afrikas und dem Nahen Osten seien davon am meisten betroffen, was den "Kreislauf von Armut und sozialer Ungleichheit" weiter verstärke. Für Deutschland geben die Statistiker des SIL-Portals "Ethnologue" an, dass jedes fünfte Kind nicht in der Herkunftssprache unterrichtet wird.
Unesco: Muttersprache auch Entwicklungsfaktor
Sprachen sind die Grundlage sozialen Lebens, heisst es bei der Unesco. Aus Sicht der UN-Bildungsorganisation ist der Erhalt kultureller und sprachlicher Diversität ein wichtiger Baustein für nachhaltig organisierte Gesellschaften. "Wir können die Versprechen der Agenda 2030, qualitativ hochwertige Bildung zu fördern und sie zu einem Motor für nachhaltige Entwicklung zu machen, nicht erfüllen, ohne die Verwendung lokaler Sprachen zu unterstützen", stellte Santiago Irazabal Mourão, Präsident der Unesco-Generalkonferenz, zum Auftakt einer Dekade der indigenen Sprachen klar.
Am Tag der Muttersprache (21. Februar) soll in diesem Jahr vor allem der Bildungsaspekt in den Vordergrund gerückt werden. Mehrsprachigkeit auf der Grundlage der Muttersprache erleichtere Mitgliedern kleinerer Sprachgruppen den Zugang zu Bildung, heisst es im aktuellen Aufruf. © dpa
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