- Keine Schule, keine Kindergeburtstage, kein Fussballtraining: Auch für Kinder hat sich der Alltag durch die Corona-Krise stark verändert.
- Das kann mitunter Folgen für das psychische Wohlbefinden der Jüngsten in unserer Gesellschaft haben.
- Psychologin Tarika Reichen erklärt, worauf Eltern jetzt achten sollten und was sie tun können.
Die Coronakrise verändert unseren Alltag: keine Stadionbesuche, Grillfeste oder Kinoabende. Tagesstrukturen ändern sich durch Homeoffice und wegfallende Hobbies. Das kriegen auch die Jüngsten in unserer Gesellschaft mit: Sie müssen aktuell der Schule oder Kita fernbleiben, dürfen nur noch einen Freund treffen und keinen Kindergeburtstag feiern.
Kind sein in der Pandemie – das ist nicht leicht. "Ja, die Coronakrise schadet den Kinderseelen", sagt auch Psychologin Tarika Reichen. Sie arbeitet in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche und hat beobachtet: Anfragen zu depressiven Verstimmungen, Antriebsarmut, Sorgen und Ängsten häufen sich.
"Kinder bekommen die Sorgen und Ängste von ihren Eltern mit", sagt die Psychologin. Zwar sei jeder Mensch individuell und die Ressourcen jeder Familie unterschiedlich, dennoch gelte: "Tendenziell kann aktuell jede Art von Störung erhöht auftreten". Jedes Kind reagiere aber unterschiedlich auf die derzeit aussergewöhnliche Situation.
Corona-Pandemie: Einbussen in der kindlichen Entwicklung
Während manche Kinder sich derzeit häufiger um ihre Zukunft sorgten – etwa, weil sie kurz vor dem Schulabschluss nicht wüssten, ob sie ihren Berufswunsch verfolgen – haben andere Kinder vermehrt Angst um die Gesundheit ihrer Familie und Freunde. "Kinder können Risiken noch nicht so gut abschätzen wie Erwachsene und verstehen die Pandemie deshalb noch nicht so gut", erinnert Expertin Reichen.
Sie ist sich aber sicher: "Kinder bekommen mehr mit, als wir oftmals denken." Schaden nehmen die aber noch an anderer Stelle: "Es gibt teilweise Einbussen in der Entwicklung. Das kann zu Frustration führen, wenn Kinder zum Beispiel merken, dass sie in der Schule abgehängt werden", sagt die Psychologin.
Auch psychosomatische Beschwerden dürften sich aus Sicht der Expertin aktuell häufiger äussern. "Sie entstehen meist aufgrund von Ängsten und Sorgen. Wenn man sich deshalb körperlich stark anspannt, können Nacken-, Kopf- oder Bauchschmerzen die Folge sein", weiss Reichen aus der Praxis. Aber nicht nur eine gedrückte Stimmung sei bei Kindern eine Folge der Pandemie, manche reagierten auch mit einem deutlich gereizteren Gemüt.
Lockdown: Höheres Risiko für psychische Auffälligkeit
"Wissenschaftler der Universität Hamburg-Eppendorf haben in einer Studie herausgefunden, dass aktuell Hyperaktivität, Verhaltensprobleme und emotionale Probleme vermehrt auftreten", sagt Reichen. Die Folgen der Pandemie lassen sich auch in Zahlen ausdrücken: Seien vorher im Schnitt 18 Prozent der Kinder psychisch auffällig geworden, seien es nun 31 Prozent.
"Vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien werden aktuell in der Schule schneller abgehängt. Zum Teil fehlen ihnen Platz zum konzentrierten Lernen, technische Hilfsmittel oder Eltern, die bei Fragen weiterhelfen können", ergänzt Reichen. Wenn diese Kinder merkten, wie sie abgehängt werden, könne das zu Ängsten und trotzigem oder aggressivem Verhalten führen.
Warnsignale für Eltern
"Es schadet auch, dass die körperlichen Aktivitäten – etwa in Sportvereinen – aktuell so eingeschränkt sind", betont Reichen. Denn sie seien sowohl für psychisches als auch physisches Wohlbefinden wichtig. "Zusätzlich fehlen soziale Kontakte – einem der wichtigsten Faktoren für die psychische Gesundheit", bedauert die Expertin.
Worauf also sollten Eltern derzeit achten und was können sie für das psychische Wohlbefinden ihrer Kinder tun? "Es ist wichtig sich zu erinnern: Kinder verändern sich laufend. Wenn sie zum Beispiel in die Pubertät kommen, werden sie meist trotziger", sagt Reichen. Wenn sich ein Kind aber so stark im Wesen verändere, dass Eltern es kaum wiedererkennen – sich beispielsweise stark zurückziehen oder kaum mehr sprechen – sollten Eltern hellhörig werden.
Schlafrhythmus, Essverhalten, Albträume
"Eltern sollten auch auf trotziges, streitsüchtiges oder aggressives Verhalten achten – vor allem, wenn das Kind ein solches Verhalten vorher nicht gezeigt hat", sagt Reichen. Ebenso könnte es Veränderungen im Essverhalten geben. "Manche Kinder regulieren Emotionen mit vermehrtem Essen, andere versuchen ein Gefühl der Kontrolle durch weniger Essen zu erlangen", weiss Reichen.
Auffällig sei es auch, wenn sich der Schlafrhythmus stark verändere, Albträume gehäuft aufträten oder sich der Antrieb deutlich verändere. "Wenn ein Kind zum Beispiel den einen Freund, den man noch treffen darf, gar nicht mehr treffen möchte, sollten Eltern das als Warnsignal sehen", meint die Expertin.
"Weder beschönigen noch katastrophisieren"
Ihr Tipp lautet aber auch: Nicht jedes Verhalten als pathologische Störung werten und auf die Goldwaage legen. "Wenn Kinder ihre Eltern beispielsweise sehr häufig bei der Arbeit stören, kann es auch sein, dass sie einfach spüren, dass es den Eltern nicht gut geht; sie ablenken und eine andere Atmosphäre schaffen wollen", sagt die Psychologin. Es müsse deshalb nicht immer gleich der Gang zum Therapeuten sein – auch niedrigschwellige professionelle Angebote wie Seelsorgetelefone könnten Abhilfe schaffen.
Generell rät sie zu einem realistischen Blick auf die Pandemie: "Eltern sollten die Coronakrise weder beschönigen noch katastrophisieren", meint Reichen. Das bedeute, die bedrohliche Lage einzugestehen, aber auch die positiven Dinge hervorzuheben. "Man kann den Kindern zum Beispiel sagen, dass es jetzt einen Impfstoff gibt, die Massnahmen dazu da sind, um uns zu schützen und die Pandemie nicht ewig weitergeht", rät die angehende Therapeutin.
Gemeinsame Ablenkung tut gut
Gleichzeitig sollte man aber nicht nur über Corona und die Pandemie sprechen, sondern sich auch gemeinsam ablenken. "Kinder brauchen eine Tagesstruktur. Erst werden die Pflichtaufgaben erledigt, dann gibt es freie Zeit zum spielen", so Reichen.
Auch das eigene psychische Wohlbefinden dürfe nicht aus dem Blick geraten: "Wenn Eltern eine psychische Störung bekommen, ist das einer der grössten Risikofaktoren, dass die Kinder selbst krank werden", sagt Reichen.
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