Die Erkenntnis, dass eine Backpfeife nicht harmlos ist, hat sich weitgehend durchgesetzt. Aber viele Eltern sind mit der Frage überfordert, wie sie ihrem Kind gewaltfrei Grenzen setzen und Spannungen in der Eltern-Kind-Beziehung vermeiden können. Die Familienbegleiterin und Beraterin Belinda Rühl erklärt im Interview, warum gewaltfreie Erziehung so wichtig ist und wie sie gelingen kann.
Dass Ohrfeigen in der Erziehung nicht zielführend sind, dürfte mittlerweile bekannt sein. Wie sieht es mit seelischen Verletzungen aus?
Belinda Rühl: Seelische Gewalt kommt sicher noch viel häufiger vor als körperliche, oft unter dem Deckmantel "konsequent sein". Kinder, die mit ihren Gefühlen alleine gelassen und bei einem Wutanfall ins Zimmer gesperrt werden, lernen durch diesen Ausschluss nur, sich "über-anzupassen". Man zeigt ihnen: Wenn du so bist, will ich dich nicht haben.
Auch Worte können sehr viel verletzender sein, als man denkt. Die Narben bleiben ein Leben lang. Wem als Kind nur oft genug gesagt wird: "Aus dir wird nie was" oder "Du bist zu nichts zu gebrauchen", bei dem wird dieser Satz zur Lebenseinstellung. Oder Denken wir nur an den Lieblingssatz vieler Eltern: "Ich zähle jetzt bis drei!" Das alles mag uns harmlos erscheinen, die Kinder aber lernen daraus langfristig für ihr Leben: Wer droht oder schreit, hat die Macht und gewinnt – also muss ich nur drohen und laut werden, wenn ich etwas möchte.
Wie müssen Eltern stattdessen handeln, um einem Kind seine Grenzen zu verdeutlichen?
Eltern sollten authentisch sein. Wenn ein Kind dabei ist, eine Grenze zu übertreten, ist es ebenso wenig hilfreich oder zielführend, überfreundlich zu lächeln und zu säuseln. Sondern: Meine Stimme, Mimik und Körpersprache sollten der Situation entsprechend angepasst sein. Wenn ich ja sage, aber eigentlich nein meine, verunsichert das mein Kind.
Gibt es bestimmte Methoden, die Eltern anwenden können, um Konflikten mit den Kindern ohne Gewalt zu begegnen?
Wenn ich mit meinen Kindern spreche, verwende ich die Methode der gewaltfreien Kommunikation. Ich teile meine Beobachtung mit, benenne dann mein Bedürfnis und äussere dann eine konkrete Bitte. Zum Beispiel: Ich sehe, dass deine Schuhe im Gang liegen, ich möchte gerne Ordnung haben, weil ich mich damit wohl fühle. Räumst du bitte deine Schuhe in den Schrank. Dabei bleibe ich im Körperkontakt und sehe mein Kind an.
Ein weiteres Beispiel: Das Kind weigert sich vehement, sein Zimmer aufzuräumen. Wie kann ich diese Forderung gegenüber dem Kind gewaltfrei durchsetzen?
Sind die Kinder noch klein, benötigen sie selbstverständlich zum Aufräumen unsere Unterstützung und kleine, klare Arbeitsaufträge, bei denen wir dabei sind. Ist das Zimmer eines Schulkindes so mit Spielsachen gefüllt, dass man es tatsächlich nicht mehr betreten kann, würde ich genau diese Beobachtung so weitergeben: Ich sehe, dass der Boden mit Spielsachen bedeckt ist. Da ich mich nicht verletzen oder etwas kaputt machen möchte, kann ich nicht zu dir ins Zimmer kommen. Kannst du die Legosteine und Autos bitte in die Kisten räumen, damit wir zusammen noch eine Geschichte lesen können?
Wie sollten sich Eltern reagieren, wenn die Kinder ganz bewusst provozieren oder aggressiv verhalten?
Man muss dem Kind erklären, dass man seine Wut verstehen kann, es aber nicht in Ordnung ist, jemanden zu verletzen. Alternative Handlungsstrategien aufzeigen ist langfristig für die Eltern-Kind-Beziehung positiver, als auch noch selber loszubrüllen oder sogar mit Gegengewalt zu reagieren. In einen Machtkampf einzusteigen bedeutet am Ende immer, dass es zwei Verlierer gibt.
Was kann ich als Elternteil tun, wenn ich doch einmal die Fassung verloren habe?
Das gehört auch zum Eltern sein. Wir können noch so selbstreflektiert sein, wenn Stress und Druck den Alltag bestimmen, sind wir auch nur Menschen. Wenn wir uns dafür entschuldigen, zeigt es unserem Kind, wie wichtig es uns ist, und wie ernst wir seine Gefühle nehmen. Ein "Es tut mir leid, ich war gerade überfordert. Es war nicht richtig dich anzuschreien" hilft den Kindern, die Situation nicht auf sich selbst zu beziehen.
Welche Beziehung sollten Eltern und Kinder idealerweise zueinander haben?
Wertschätzung, Achtung, Empathie und Nächstenliebe sind keine Wörter, die im Erwachsenenalter einfach im Duden nachgelesen und dann gelernt werden. Es sind Eigenschaften, die wir unseren Kindern nur durch tägliches Vorleben mitgeben.
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