Das Verhältnis der Prinzen William und Harry hatte lange als unerschütterlich gegolten. Umso trauriger stimmt viele Royal-Fans die Krise zwischen den beiden Brüdern. Wie dynamisch und unberechenbar Geschwisterbeziehungen tatsächlich sind – und inwieweit Eltern sie beeinflussen können, erläutert eine Expertin.
Zu den Bildern, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben, gehört sicher auch dieses: wie die Brüder Harry und William mit gesenkten Köpfen dem Sarg ihrer Mutter Diana folgen. Als sie diesen grossen Verlust meistern mussten, waren sie gerade einmal zwölf und 15 Jahre alt.
Geschlossen und harmonisch traten die Brüder seither in der Öffentlichkeit auf – bis eine Krise, die schliesslich im "Megxit" gipfelte, sie entzweit zu haben schien. Royal-Fans zeigten sich in den sozialen Medien traurig und bestürzt, dass das Verhältnis der Geschwister solchen Schaden nehmen konnte.
"Wir glauben gerne, dass uns Geschwister für immer bleiben", analysiert die Münchner Familientherapeutin Anette Frankenberger. "Theoretisch ist das ja auch richtig. Aber wir vergessen dabei, dass sich auch familiäre Beziehungen wieder verändern können – und es manchmal sogar zum Abbruch kommen kann."
Was Konflikte unter Geschwistern so hart macht: "Nirgends sind wir so achtlos wie gegenüber den eigenen Familienmitgliedern. Wir meinen - ohne böse Absicht - Dinge sagen zu dürfen, die wir niemals zu anderen sagen würden. Wir kennen unsere Nächsten am besten, wir haben viel miteinander durchlebt und kennen deshalb ihre Schmerzpunkte. Wir wissen also, was dem anderen wehtun kann."
Im Fall von William und Harry komme der Druck durch eine gigantische Öffentlichkeit hinzu, die jede hochgezogene Augenbraue kommentiere: "Das in so einer schwierigen Zeit – es muss extrem belastend sein."
Partnerwahl als Ursache für Krisen
Wie sich eine Geschwisterbeziehung im Laufe des Lebens entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab: "Ein sehr bedeutender ist die Wahl des Partners", sagt Frankenberger, die seit 27 Jahren Paare und Familien in ihrer Praxis berät. "Kann mein Bruder meine Partnerin nicht ertragen, oder verstehen sich die neuen Partner nicht miteinander, bringt mich das in einen Loyalitätskonflikt."
Wer zu einer Entscheidung zwischen Familie und Partner gezwungen wird, hat kaum eine Wahl: "Ich muss mich auf die Seite des Partners schlagen. In der Fachsprache der Therapeuten würde man es so formulieren: Das neue System hat Vorrang vor dem alten. Damit ist nicht gemeint, das neue System habe den höheren Wert“, betont Frankenberger, "es geht vielmehr um die Lebenswirklichkeit: Ich verbringe in der Regel mehr Zeit mit dem Partner als mit meinen Geschwistern. Also werde ich die Beziehung mit ihnen lockern und nicht die zu meinem Partner, mit dem ich womöglich auch noch gemeinsame Kinder habe."
Die Sehnsucht von Geschwistern "Blut ist doch dicker als Wasser – also suche dir doch bitte jemanden aus, der zu unserer Familie passt" hält sie für riskant. Eher würde Frankenberger Geschwistern den Rat geben, offener und toleranter zu sein gegenüber Partnern, die neu in die Grossfamilie kommen.
Wie sich das Elternverhalten auf Geschwisterbeziehungen auswirkt
Auch wie sich die Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs verhalten, beeinflusst die Beziehung von Geschwistern.
- Für Eltern gilt: die Kinder fair und altersgerecht behandeln, aber sich möglichst wenig in deren Beziehung einmischen
Auch wenn Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder immer zusammenhalten werden: Beitragen können sie dazu nur wenig. Denn die Beziehung positiv zu beeinflussen, gelingt laut Frankenberger am ehesten, "indem man versucht, sie möglichst nicht zu beeinflussen."
Botschaften hin- und herzutragen, hält sie für eher manipulativ und somit kontraproduktiv. "Zwischen Geschwistern gibt es eine Chemie – mal passt sie und mal passt sie nicht." Eltern sollten sich also eher raushalten – und Ungerechtigkeiten vermeiden: "Etwa, indem man immer einen der beiden für schuldig hält, obwohl man gar nicht dabei war und nicht weiss, wie der Streit angefangen hat." Darunter würde die Beziehung der Geschwister definitiv leiden.
Alle Kinder gleich behandeln? Zum Scheitern verurteilt
Das hehre Ziel vieler Eltern, immer und unbedingt Gerechtigkeit walten zu lassen, sei aber zum Scheitern verurteilt: "Es gibt keine absolute Gerechtigkeit. Wenn ich alle gleich behandle, bin ich dem Älteren gegenüber schon wieder ungerecht. Das ältere Kind darf schon mehr als das jüngere Kind, hat aber auch mehr Pflichten!" Es wird also immer einen geben, der sich gerade ungerecht behandelt fühlt.
Hinzu komme, dass jedes Kind in eine andere Zeit hineingeboren wird: "Jeder erlebt somit auch andere Eltern! Sie haben zu jedem Kind eine ganz eigene Beziehung, und diese Beziehungen verändern sich", erläutert Frankenberger.
Eine dazu passende Studie zitierte kürzlich Ralph Hertwig, Professor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin: Eltern würden vor allem Sandwichkinder, also mittlere Kinder benachteiligen, wenn es um die Verteilung der Ressourcen Zeit und Geld geht.
"Sandwichkinder geniessen nie anhaltend die exklusive Aufmerksamkeit der Eltern", erklärte er. Die Eltern entscheiden das nicht bewusst, es ergebe sich vielmehr automatisch: Das Erstgeborene habe eine solche Phase während der ersten Entwicklungsstufe, das Letztgeborene gegen Ende, wenn die Geschwister schon aus dem Haus sind.
Im Schatten des älteren Bruders?
Die Geburtenreihenfolge – im Fall von Harry und William natürlich sehr speziell aufgrund der Thronfolgeregelung – hat nach neueren Erkenntnissen des Max-Planck-Instituts allerdings nur einen kleinen bis gar keinen Effekt auf die Persönlichkeit der Kinder.
Entsprechend hält auch Frankenberger es für ein Klischee, dass jüngere Geschwister tendenziell mit dem Problem kämpfen, im Schatten des Älteren zu stehen: "Ich habe so oft den genau umgekehrten Fall erlebt, dass der jüngere Bruder den älteren überflügelt – womit der dann aber auch erst mal klarkommen muss." Definitiv gebe es ein Konkurrenzdenken unter Geschwistern – und zwar vor allem unter gleichgeschlechtlichen.
Eltern könnten nicht mehr tun, als die Kinder fair und altersgerecht zu behandeln und ihnen die Chance geben, dass sie es verstehen, zum Beispiel: "Wenn du so alt bist wie dein grosser Bruder, wirst du auch mehr Taschengeld bekommen."
Das gelte auch im Erwachsenenalter noch: Bedürfe eines der Kinder einer finanziellen Unterstützung, würde Frankenberger Eltern immer raten, transparent damit umzugehen: "Im Zweifelsfall sogar einen Familienrat einberufen, um alles offen und mit allen zu besprechen."
Beziehungen können sich auch wieder bessern
Wie das Verhältnis von Geschwistern in der Kindheit ist, sage letztlich wenig über ihre spätere Beziehung aus: Auch persönliche Krisen oder räumliche Trennung gehören zu den Dingen, die eine Geschwisterbeziehung enorm beeinflussen können. Eines betont Frankenberger aber: "Es ist immer möglich, aus Krisen herauszukommen und sich wieder anzunähern."
Wenn es zu Konflikten kommt, beobachtet sie einen Unterschied zwischen Geschwistern und Freunden: Geschwister würden länger zuwarten, bis sie es zu einem Bruch kommen liessen: "Und während Freundschaften häufiger endgültig beendet werden, sind Geschwister viel länger bereit zu einer Versöhnung."
Was noch mehr verbinden kann als der gemeinsame Stall, gemeinsame Erinnerungen und die ähnliche Prägung, ist ein Schicksalsschlag, wie ihn etwa William und Harry in ihrer Jugend erleben mussten: "So etwas stürzt einen Menschen entweder in eine solche Krise, dass er sich selbst und auch andere verliert. Oder es schweisst die Beteiligten auf besondere Weise zusammen", sagt Frankenberger.
Bei den beiden Brüdern habe man immer das Gefühl gehabt, "dass sie einander bei der Hand genommen haben. Deshalb stehen die Chancen wohl auch gut, dass sie wieder zueinander finden."
Verwendete Quellen:
- Interview mit Anette Frankenberger, seit 1994 in eigener Praxis tätig als systemische Paar- und Familientherapeutin sowie Supervisorin; Seit 1989 Dozentin in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung.
- dpa (Studien zur Geburtenreihenfolge)
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