Bei der Geburt ihres ersten Kindes hat Lena Högemann Gewalt seitens des medizinischen Pflegepersonals erfahren. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben, in dem sie kritisch hinterfragt, was in der klinischen Geburtshilfe schiefläuft – und erklärt, was sich ihrer Meinung nach ändern muss.
Im Interview erzählt Lena Högemann, welche Form von Gewalt Frauen im Kreisssaal erleben können, warum diese Form der Gewalt den Betroffenen häufig abgesprochen wird und welche Rolle Hebammen, Ärzte und Ärztinnen in diesem Zusammenhang spielen.
Frau Högemann, welche Form von Gewalt kann Frauen im Kreisssaal widerfahren?
Lena Högemann: Grundsätzlich kann zwischen körperlicher Gewalt, psychischer Gewalt, Vernachlässigung und Störung der Mutter-Kind-Beziehung unterschieden werden.
Was versteht man in diesem Zusammenhang unter körperlicher Gewalt?
Darunter versteht man beispielsweise Eingriffe wie Kaiser- oder Dammschnitte ohne Zustimmung oder die Gabe von Medikamenten gegen den Willen der Frau oder auch einen allgemein groben Umgang mit den Betroffenen. Was hierbei zählt, ist die Wahrnehmung der Frau. Sie entscheidet, ob sie Gewalt erlebt hat. Es gibt Frauen, die Kaiserschnitte als sehr gewaltvoll erleben. Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, ob die vielen Eingriffe in die Geburt überhaupt notwendig sind und wie sie kommuniziert und begleitet werden. Häufig werden diese Eingriffe aus Routine vorgenommen und nicht, weil sie medizinisch notwendig sind. Frauen verstehen während der Geburt gar nicht, wie es zu diesen Eingriffen gekommen ist.
Auch Sie haben bei der Geburt Ihrer ältesten Tochter traumatische Erfahrungen machen müssen. War Ihnen unmittelbar in dieser Situation bewusst, dass Sie Gewalt erleben?
Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der Betroffenen während der Geburt nicht realisiert, dass sie Gewalt erfährt – auch mir war das damals nicht bewusst. Viele Eingriffe, die Frauen als gewaltvoll erleben, werden auf den Geburtenstationen als völlig normal angesehen. In vielen Kliniken herrscht der Tenor "Hauptsache, das Kind ist gesund". Aus diesem Grund wissen viele Frauen gar nicht einzuordnen, dass sie möglicherweise Opfer von Gewalt geworden sind.
Auch ich musste erst lernen, dass ich nicht alleine war mit meiner Erfahrung – und vor allem nicht die Schuld daran trage. Schuld ist das System, in dem die Geburt stattfand und in dem über die Köpfe der Frauen hinweg Entscheidungen getroffen werden. Aus dieser Erfahrung heraus ist mein Buch entstanden, ein Ratgeber, was Frauen über eine selbstbestimmte Geburt wissen sollten.
Gibt es Ihrer Erfahrung nach Frauen, denen es sogar abgesprochen wird, Gewalt bei der Geburt erlebt zu haben?
Ja, die gibt es. Zum einen im medizinischen Kontext, indem, wie bereits angesprochen, argumentiert wird, dass Mutter und Kind immerhin gesund seien. Zum anderen aber auch im privaten Bereich, indem die Erfahrungen etwa innerhalb des Freundeskreises oder seitens der Eltern oder Schwiegereltern mit Aussagen wie "Das Lächeln deines gesunden Kindes macht alles wieder gut" relativiert wird. Damit wird den Frauen gewissermassen nochmal Gewalt angetan, weil das, was sie erlebt haben, nicht gesehen wird. Umso wichtiger ist es, den Frauen zuzuhören und ihnen Raum für ihre Erfahrungen zu geben. Statt ihnen ihre Erlebnisse also abzusprechen, sollte vielmehr mit dem Satz "Es tut mir leid, dass dir das passiert ist" reagiert werden.
Sie haben gerade relativierende Aussagen der Eltern oder Schwiegereltern angesprochen. Beobachten Sie bezüglich der Wahrnehmung von Gewalt bei der Geburt einen Generationen-Clash?
Ja, ich habe bei den Recherchen und Interviews zu meinem Buch immer wieder festgestellt, dass Reaktionen wie "Geburten sind nun einmal schmerzhaft" oder "Da mussten wir alle durch" häufig seitens der älteren Generation kommen. Es ist problematisch, dass die Normalisierung von Gewalt bei der Geburt über die Generationen weitergetragen wird. Vielmehr muss diese Normalisierung aufgebrochen werden. Umso wichtiger ist es, dass Frauen über ihre Geburten sprechen – es gibt nicht die eine Geburt, jede Geburt ist unterschiedlich.
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Welche Rolle spielen Hebammen, Ärzte und Ärztinnen in diesem Zusammenhang?
Meiner Erfahrung nach lässt sich das medizinische Fachpersonal in zwei Gruppen einteilen. Da wären zum einen – und damit sprechen wir von der kleineren Gruppe – junge Hebammen, die individuell und zugewandt die Frauen bei ihrer selbstbestimmten Geburt betreuen wollen. Auf der anderen Seite sehe ich Fachpersonal, das häufig aus einer älteren Generation kommt und gemäss fester Routinen arbeitet. In diesem Zusammenhang spreche ich von dem patriarchalen System der Geburtshilfe, das einer werdenden Mutter vorschreibt, wie sie sich zu verhalten hat. Das ist für mich der Inbegriff des Patriarchats, wenn Geburtshelfer über Frauenkörper bestimmen.
Was läuft Ihrer Meinung nach in der klinischen Geburtshilfe falsch?
Es gibt natürlich unterschiedliche Kliniken und dementsprechend unterschiedliche Arten, eine Geburt zu begleiten und zu verstehen. Meiner Meinung nach kommt die Selbstbestimmung der Frau in vielen Kliniken zu kurz. Sobald eine Gebärende in den Kreisssaal kommt, scheint das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr zu gelten. In den Gesprächen haben viele Betroffene erzählt, sich wie eine Hülle gefühlt zu haben, bei der es ausschliesslich darum ging, ein Leben zu geben, während die eigenen Bedürfnisse vollends in den Hintergrund gerückt wurden. Deswegen sind auch so viele Frauen nach der Geburt traumatisiert. Dass das Verständnis von Selbstbestimmung fehlt, ist somit eines der grundlegenden Probleme in der Geburtshilfe.
Wo liegen die Ursachen dafür?
Eine wichtige Rolle spielen Schliessungen von Geburtenstationen und der Hebammenmangel. Seit 1991 hat sich die Zahl der Kreisssäle halbiert, die Frauen haben demnach weniger Orte zum Gebären und auch weniger Auswahl. Der Hebammenmangel ist vor allem in Kliniken zu beobachten. Viele junge Hebammen entscheiden sich während ihrer Ausbildung gegen die Arbeit in den Kliniken, weil sie dort nicht so arbeiten können, wie sie es wollen.
Aus einer Studie von 2019 ging hervor, dass eine Hebamme am Tag durchschnittlich drei Frauen gleichzeitig betreut – es ist nachvollziehbar, dass die Qualität ihrer Arbeit darunter leidet. Eine weitere Ursache liegt in den finanziellen Fehlanreizen. Das bedeutet, dass Kliniken mit Eingriffen bei einer Geburt mehr Geld verdienen als bei einer natürlichen Geburt. Im Grossen und Ganzen geht es also um Zeit und Geld, auch wenn nicht nur das System bei der Suche nach Ursachen eine Rolle spielt.
Was meinen Sie damit?
Hier kommt das sogenannte Coolout-Phänomen ins Spiel. Das bedeutet, dass Menschen durch Stress und schlechte Arbeitsbedingungen ihre Arbeit nicht so erfüllen können, wie sie es eigentlich wollen. In der Folge stumpfen sie häufig ab und entwickeln eine Form der Empathielosigkeit. Auch Hebammen sind von diesem Phänomen betroffen und können möglicherweise keine Empathie für die Gebärenden aufbringen. Nur so ist meiner Meinung nach ihr respektloses und unmenschliches Verhalten gegenüber Gebärenden zu erklären.
Wie kann dieses Verhalten aussehen?
Ich erinnere mich etwa an meine Hebamme bei meiner ersten Geburt, die beim Abtasten meines Muttermundes Sätze wie "Das reicht nicht" oder "Das wird so nichts" gesagt hat. Später, als ich in Tränen aufgelöst dalag, meinte sie: "Weinen hilft jetzt auch nicht." Von Reaktionen dieser Art berichten viele Betroffene. Dabei müsste eine Frau während der Geburt eigentlich gesagt bekommen: "Du machst das gut, ich bin bei dir" oder "Du schaffst das".
Wie erleben die Partner der Betroffenen diese Situationen?
Für die werdenden Väter, die mit im Kreisssaal anwesend sind, ist die Situation der Geburt nie einfach, weil sie nur bedingt helfen können. Sie unterstützen die Frauen auf mentaler Ebene, können ihr die Geburt selbst aber nicht abnehmen. Besonders schwierig wird es, wenn die Frau Gewalt erlebt.
Manchmal erhalten die Väter zwar im Vorfeld von der Partnerin Angaben über nicht gewünschte Eingriffe während der Geburt, haben aber nicht das Selbstbewusstsein, mit dem medizinischen Personal in entsprechende Diskussionen zu gehen. Deswegen kann es für einen werdenden Vater schnell überfordernd werden, sich in einer solchen Ausnahmesituation dem medizinischen System zu stellen.
Wie Sie erzählt haben, wird Frauen ihre Gewalterfahrung im Nachhinein häufig abgesprochen. Finden Männer in einer solchen Situation überhaupt Gehör?
Kaum. Ihnen wird ein solches traumatisierendes Erlebnis sogar noch mehr abgesprochen als den Frauen. Umso wichtiger ist es, dass Männer ihren Partnerinnen die Gewalt, die ihnen widerfahren ist, nicht absprechen.
Was sind die möglichen Folgen einer traumatischen Geburt?
Eine typische Folge sind posttraumatische Belastungsstörungen mit Albträumen, Flashbacks oder Panikattacken. Damit geht bei vielen Frauen häufig eine fehlende Bindung zum Kind einher, auch, wenn es ein Wunschkind war. Ich habe im Rahmen der Interviews für mein Buch etwa mit Betroffenen gesprochen, die sich die Liebe zu ihrem Kind erarbeiten mussten, weil die Liebe gewissermassen durch das Trauma im Kreisssaal geblieben ist.
Wie kann und sollte Ihrer Meinung nach positive Geburtshilfe aussehen?
Zum einen müsste mehr Geld zur Verfügung stehen. Für geschultes Personal, für schönere Kreissäle und damit der Zeitdruck bei einer Geburt keine Rolle mehr spielt. Ich plädiere zudem für verpflichtende Schulungen auf allen Stationen zum traumasensiblen Umgang mit Gebärenden. Letztendlich muss verstanden werden, dass jede Geburt individuell und jede Frau anders ist – Selbstbestimmung bei einer Geburt ist das A und O.
Über die Gesprächspartnerin
- Die Autorin und Journalistin Lena Högemann erzählt in ihrem Sachbuch "So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen" ihre Geschichte einer gewaltvollen Geburt.
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