Sexueller Missbrauch zählt zu den grössten Sorgen von Eltern - und doch wird unterschätzt, wie häufig er auch im eigenen Umfeld passiert. Ohne es vielleicht zu ahnen: Jeder von uns kennt Betroffene. Die Kinder schweigen oft. Wie Sie Signale richtig deuten und was Sie tun können.
Wenn die Medien über neue bestürzende Fälle sexuellen Missbrauchs berichten, weckt das in Eltern schlummernde Urängste: dass so etwas auch dem eigenen Kind widerfahren könnte - oder dass es vielleicht sogar bereits passiert ist. Ein weit verbreiteter Irrtum: "Wenn meinem Kind so etwas passiert, bekomme ich es mit. Es wird mir davon erzählen."
Genau das sei bei sexuellem Missbrauch sehr häufig nicht der Fall, weiss Silke Noack. Sie ist Sozialpädagogin und Leiterin von N.I.N.A. e. V. Der Verein hat die Trägerschaft und fachliche Leitung des "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" übernommen, dem bundesweiten Beratungsangebot des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Kinder fühlen Scham und Schuld - und schweigen
Dass betroffene Kinder sich häufig nicht offenbaren, hat mehrere Gründe. "Es ist kaum vorstellbar, unter welchem Druck sie stehen", schildert Noack. Da sei zum einen das überwältigende Gefühl von Scham, aber auch Schuld: "Sie denken, sie hätten mitgemacht und trügen somit eine Mitschuld. So verkaufen es die Täter ihnen."
Besonders fatal: In den meisten Fällen kennen die Opfer ihre Täter, wie Jahr für Jahr auch aus der polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht. Der Fussballtrainer etwa, der gute Freund der Familie, der Onkel, der Stiefvater, der Vater, die Mutter. Die Täter stammen aus allen sozialen Schichten. Auch Frauen missbrauchen Kinder sexuell.
"Am gefährlichsten ist für das Kind das nahe soziale Umfeld", bringt Noack es auf den Punkt. Das bedeutet zugleich: "Je vertrauter der Täter, desto grösser die Gefahr, dass die Tat übersehen wird. Zudem denken Kinder häufig: So etwas gehört eben dazu, andere tun es auch. Das sagt ihnen der Täter so", erläutert Noack.
Bei einem Täter aus dem Umfeld falle es einem Kind besonders schwer, sich jemandem anzuvertrauen: "Der Täter verpflichtet sein Opfer zur Geheimhaltung und droht mit schlimmen Konsequenzen, sollte es etwas verraten. Zudem fürchten die meisten Kinder, dass die Familie daran kaputtgehen würde. Das wollen sie nicht."
Signale, die auf Missbrauch hindeuten können
Warum Missbrauch nach Einschätzung von Experten ausserdem so häufig übersehen wird: "Es gibt nicht das eine eindeutige Anzeichen, dass jemandem so etwas angetan wurde", betont Noack. Verletzungen im Genital- oder Analbereich etwa seien selten. Auch die psychischen Anzeichen unterschieden sich - und würden oft auch nicht unmittelbar nach dem Übergriff auftreten.
"Es gibt allerdings Signale, die Sie ernst nehmen müssen, weil sie - besonders wenn mehrere zutreffen - auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen können." Dazu gehören:
- Extreme Veränderung im Verhalten von einem Tag auf den anderen
- Sexualisiertes Verhalten, etwa: "Das Kind weiss detailliert über Dinge Bescheid, die Erwachsene beim Sex tun. Oder es versucht, Szenen mit anderen Kindern nachzustellen, die es selbst durchlebt hat."
- Starker Rückzug des Kindes
- Gehäufte Konflikte mit anderen Kindern
- Aggressivität
- Konzentrationsschwächen
- Leistungsabfall
- Schlafstörungen
- Selbstverletzendes Verhalten
- Psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Hauterkrankungen
- Essstörungen
- Häufig bei Missbrauch innerhalb der Familie: Das Kind ist tagsüber ungewöhnlich müde in Schule oder Kita. Abends traut es sich nicht einzuschlafen, weil es Angst hat, in der Nacht für die Taten geweckt zu werden.
Das sind doch nur Doktorspielchen?
"Bei all diesen Signalen sollten Sie genauer hinsehen. Natürlich kann es auch viele andere Gründe dafür geben. Wichtig ist jedoch, sexuellen Missbrauch überhaupt als eine mögliche Ursache in Betracht zu ziehen und aufmerksam zu sein. Irgendetwas stimmt ja in jedem Fall nicht, und das Kind braucht Unterstützung", meint Tanja von Bodelschwingh, Sozialpädagogin und Beraterin bei N.I.N.A.
"Was wir sehr oft erleben: Selbst wenn Kinder auffallend sexualisiertes Verhalten an den Tag legen, tun viele Erwachsene das als Doktorspielchen ab, die zur Entwicklung dazugehören."
Viele Verhaltensweisen aber erscheinen in einem ganz anderen Licht, betrachtet man sie unter dem Aspekt eines möglichen Missbrauchs.
Noack schildert den Fall von jugendlichen Schwestern, die sich auch im Hochsommer dick anzogen und ihr Äusseres zunehmend vernachlässigten: "Sie packten sich regelrecht ein, wollten sich schützen vor dem Täter und sich für ihn unattraktiv machen."
In jeder Schulklasse ein bis zwei Opfer
Wie häufig sexueller Missbrauch tatsächlich ist, wird meist unterschätzt: "Sie können sicher sein: Jeder von uns kennt Kinder, die sexuell missbraucht wurden", sagt Noack.
- Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass in Deutschland eine Million Mädchen und Jungen sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder.
Experten sprechen dabei statt "sexuellem Missbrauch" von "sexueller Gewalt". "Dabei wird noch deutlicher: Es handelt sich um Gewalt, die mit sexuellen Mitteln ausgeübt wird", erläutert Noack. Noch genauer findet sie den Begriff 'sexualisierte Gewalt', "weil dabei deutlich wird, dass Sexualität hier benutzt wird, um Gewalt auszuüben".
Im Verdachtsfall angemessen zu reagieren, ob als naher Angehöriger oder Aussenstehender, ist eine grosse Herausforderung.
Fall 1: Ich habe einen Verdacht, doch mein Kind sagt nichts
Ist das Kind verschlossen und es lastet ihm offensichtlich etwas auf der Seele, scheint nahezuliegen, möglichst intensiv nachzubohren. Davon rät Noack ab: "Es kann dazu führen, dass sich das Kind immer weiter verschliesst, weil es nur noch mehr Druck bedeutet." Die Beraterinnen empfehlen folgende Vorgehensweisen:
- "Gibt es etwas, das du mir nicht erzählen sollst? Du kannst es mir sagen."
- "Ist es ein gutes oder ein schlechtes Geheimnis? Geheimnisse, die sich nicht gut anfühlen, darfst du jemandem anvertrauen."
- Gemeinsam mit dem Kind altersgerechte Bücher zum Thema lesen: "Womöglich offenbart es sich dann nicht gleich. Aber wir machen die Erfahrung, dass Kinder später noch mal darauf zurückkommen", berichtet Noack. Schon für Dreijährige eigne sich das Buch "Kein Küsschen auf Kommando", mehr Literaturtipps hat der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Fall 2: Ein Kind vertraut sich mir an
Offenbart ein betroffenes Kind seine Geschichte, fallen eingangs häufig die Worte: "Du musst mir aber versprechen, dass Du niemandem davon erzählst." Gerade bei Jugendlichen sei es wichtig, sich nicht darauf einzulassen.
"Sie verlieren sonst das Vertrauen des Mädchens oder des Jungen, weil sie das Versprechen im Falle eines sexuellen Missbrauchs nicht werden einhalten können. Schlimmstenfalls nimmt es alles Offenbarte am Ende wieder zurück", warnt von Bodelschwingh. Eine geeignete Reaktion:
- "Ich weiss noch nicht, worum es geht. Deshalb kann ich dir nicht versprechen, dass ich niemandem etwas sage. Aber ich verspreche dir: Ich werde nichts hinter deinem Rücken tun."
- Loben Sie das Kind für seine Offenheit.
Für das weitere Gespräch raten die Expertinnen zur Besonnenheit, um dem Kind erst einmal den Druck zu nehmen.
- Das Wichtigste: Bleiben Sie ruhig.
Eine überstürzte und offensichtlich bestürzte Reaktion erwecke beim Kind den fatalen Eindruck, nicht einmal ein Erwachsener könne diese Last aushalten: "Es wird den Mut verlieren, noch mehr zu erzählen.
Schlimmstenfalls nimmt es auch in diesem Fall seine Geschichte wieder zurück. Wichtig ist, dass das Kind spürt: ,Ich habe das jetzt gesagt und es bricht keine Welt deswegen zusammen‘“, sagt von Bodelschwingh. Beim weiteren Vorgehen sei eines unbedingt zu beachten:
- Konfrontieren Sie den Verdächtigen nicht.
"Ganz sicher wird die Tatperson sonst noch mehr Druck auf das Kind ausüben. Er oder sie darf im Idealfall erst mit den Vorwürfen konfrontiert werden, wenn das Kind geschützt ist", betont von Bodelschwingh.
Das wiederum ist meist nur möglich, wenn bereits ein Netzwerk von Helfern besteht. Besonders schwierig ist die Intervention erfahrungsgemäss, wenn der Täter oder die Täterin ein Umgangs- oder Sorgerecht hat.
- Sie müssen und können das Kind nicht alleine retten.
"Es gibt einen Satz, den wir häufig zitieren: Kein Mensch und keine Institution kann alleine einen sexuellen Missbrauch beenden", sagt Noack. "Das nimmt vielen den Druck. Holen Sie sich auf jeden Fall Hilfe."
Fall 3: Ich mache mir Sorgen um ein Kind ausserhalb der Familie
Die Hemmung, sich überhaupt "in die Angelegenheiten anderer zu mischen", ist weit verbreitet. Anrufer beim Hilfetelefon räumen häufig ein schlechtes Gewissen ein, weil sie ihre Ahnung schon seit Jahren mit sich herumtragen.
Denn natürlich: Gerade der Verdacht des Missbrauchs ist ein äusserst harter. Bevor der Eindruck entsteht, womöglich sogar eine konkrete Person einer solch ungeheuerlichen Tat zu verdächtigen, halten sich viele lieber raus, schweigen, warten ab.
Noack findet das nachvollziehbar, betont aber: "Sie machen nichts falsch, wenn Sie bei uns anrufen." Die Beratung erfolgt kostenfrei und anonym. "Wir sortieren mit Ihnen die Anhaltspunkte, besprechen den Fall, wie er sich Ihnen darstellt. Unsere Anrufer sind immer erleichtert, eine Einschätzung zu bekommen."
Wenn ein Verdacht konkret wird, empfehlen die Beraterinnen von N.I.N.A. grundsätzlich auch eine Fachberatungsstelle in der Nähe. Die geschulten Fachkräfte dort wissen um die Dynamik, die gerade sexueller Missbrauch im sozialen Umfeld mit sich bringt.
Appell: Nicht wegsehen und Netzwerk der Hilfe aufbauen
Ein klares Schema, wie es danach weitergehe, gebe es nicht, weil die Fälle so unterschiedlich seien. Meist werden zunächst Gespräche geführt mit der unterstützenden Person und auch anderen Menschen, die mit dem Kind zu tun haben und vielleicht helfen können.
Je nach Fall wird das Jugendamt oder die Polizei eingeschaltet. Generell gilt: Die Fachberatungsstellen stimmen das weitere Vorgehen mit den Ratsuchenden ab und bauen gemeinsam mit ihnen ein Netzwerk der Hilfe auf.
Ein häufiger Rat an Lehrerkräfte, die einen Verdacht haben, aber sich schwertun, konkrete Anhaltspunkte zu sammeln: ein Präventionsprojekt für die Schulklasse zu organisieren - und das Kind dabei im Blick zu behalten. So weiss es: "Meine Schule kennt sich aus. Hier wissen alle, dass es das Thema gibt. Hier finde ich Hilfe."
Noack betont noch einmal: "Niemand ist alleine dafür verantwortlich, in der Situation eines sexuellen Missbrauchs einzuschreiten. Aber wenn man einen Verdacht hat, ist man dafür verantwortlich, nicht wegzusehen."
Verwendete Quellen:
- Interview mit Silke Noack und Tanja von Bodelschwingh, Sozialpädagoginnen und Beraterinnen in Kiel beim Verein N.I.N.A. e. V. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen)
- Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung
- Initiative "Trau dich!"
- Polizeiliche Kriminalstatistik 2019
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