- Viele Eltern sind dieser Tage mit Homeoffice, Homeschooling und zusätzlichem Freizeitprogramm für ihre Kinder ausgelastet - um nicht zu sagen überlastet.
- Und dann noch das: Die Kinder klagen über Langeweile.
- Warum wir darauf meistens ganz falsch reagieren und welcher Weg der richtige wäre.
"Mir ist langweilig!" Alle Eltern kennen diesen Satz - auch wenn sie schon 100 Tipps und Ideen gegen Langeweile gesammelt haben. Und viele macht er nervös, denn natürlich: Fröhlich und ausgeglichen ist unser Kind in solchen Momenten nicht. Wir haben das Gefühl, reagieren zu müssen, um das Kind - und uns selbst - zu entlasten. Um zu verhindern, dass die Stimmung weiter kippt oder das Kind irgendeinen Quatsch anstellen könnte.
"Dabei ist Langeweile wichtig", betont die Münchner Familientherapeutin Anette Frankenberger. Sie zählt auf, welche Funktionen Langeweile hat – für Kinder wie für Erwachsene: "Wir verarbeiten Erlebtes, kommen zu uns und regulieren uns selbst – das geht nur mit Ruhe. Wir brauchen nicht sofort Ablenkung, wir müssen nicht sofort ein Filmchen im Handy gucken oder etwas essen, nur weil wir meinen, wir bräuchten immer eine Beschäftigung."
Eltern-Reflex: Zehn Möglichkeiten, was das Kind jetzt tun könnte
"Die Annahme, dass ein Kind sich besser nicht langweilen sollte, ist weit verbreitet, aber falsch. Es ist ganz im Gegenteil eine wichtige Erfahrung, Langeweile auszuhalten. Zu akzeptieren, dass einfach mal gerade nichts ist", erläutert Frankenberger.
Viele Eltern aber reagieren reflexartig, wenn das Kind über Langeweile klagt: "Du hast doch so schöne Puppen! Zieh die doch mal an. Oder du malst was Schönes! Was ist eigentlich mit deinem neuen Bastelkoffer? Oder den vielen tollen Büchern …?"
Frankenberger: "Wir zählen dem Kind eine Reihe von Möglichkeiten auf. Doch es wird ablehnend reagieren, weil es einfach gerade in einer Abwehrhaltung ist."
Was Eltern stattdessen besser entgegnen: "Dann langweilst du dich jetzt mal."
Warum viele Eltern sich eher allerhand einfallen lassen, bevor ihnen dieser einfache Satz in den Sinn kommt: Langeweile und Untätigkeit sind eher verpönt in unserer Gesellschaft, meint Frankenberger: "Das führt dazu, dass der Alltag von Kindern viel zu durchgetaktet ist. Wenn immer Programm ist, wird es nie die Angst vor dem Zustand der Langeweile verlieren."
Es sei wichtig für das Kind zu lernen, damit umzugehen. "Wenn ich ihm mal fünf bis zehn Minuten jegliches Entertainment verweigere, wird ihm etwas einfallen, was es tun möchte. Es wird das unschöne Gefühl der Langeweile durchleben – und erfahren, dass sie sich auch wieder verabschiedet. Drücke ich ihm aber das Tablet in die Hand, zieht es die Lehre: Die Langeweile geht immer dann weg, wenn ich App spielen darf."
Was beim Nichtstun im Gehirn passiert
Auch der Fernseher ist das falsche Mittel, um Langeweile zu vertreiben. Der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer warnt ausdrücklich davor: "Bildschirme zur Beruhigung von Kindern sind wie medikamentöse Schmerz- oder Beruhigungsmittel: Kurzfristig helfen sie, langfristig richten sie grossen Schaden an. Sie beruhigen auch nicht, sondern machen die Sache schlimmer. Die Kinder schlafen beispielsweise viel schlechter ein."
Spitzer weist auch in seinen Büchern darauf hin: Das Gehirn schläft nie, es ist immer aktiv, auch beim ziellosen Nichtstun. Das seien die Zeiten, in denen das Gelernte verarbeitet wird. "Wenn man Kinder im Sandkasten beim Spielen beobachtet, dann sieht man, dass sie manchmal dasitzen und ,in die Luft gucken‘", sagte er einmal in einem Interview mit dem "Kölner Stadtanzeiger". Es sei offensichtlich von Bedeutung für unser Gehirn, "dass es nicht immer in der Welt ist, sondern gelegentlich einfach nur bei sich selbst."
Der amerikanische Neurologe Marcus Raichle stellte das 1998 bei Studien mit dem Kernspintomografen fest:
- Konzentrierten sich die Probanden auf eine Aufgabe, wurden bestimmte Hirnareale aktiv, in anderen Regionen nahm die Betriebsamkeit ab. Die Aktivität nahm in genau diesen Regionen aber zu, das Verhältnis drehte sich sozusagen um, als die Personen mit dem zielgerichteten Denken aufhörten.
Es ist letztlich etwas, das wir alle kennen: Unser Hirn scheint manchmal wie befreit, wenn wir vermeintlich nichts tun. Ein guter Einfall kommt oft nicht beim Arbeiten, sondern in der Pause von der Arbeit – am Kaffeeautomaten, unter der Dusche oder beim Spaziergang.
Eltern als Vorbilder im Nichtstun
Zu Spaziergängen rät Spitzer Familien in diesen Zeiten unbedingt: "Wer Kinder hat, sollte täglich mindestens für eine oder besser für zwei Stunden raus gehen, am besten in den Wald. Sie sind danach viel aufgeräumter. Und dort gelingt auch der körperliche Abstand zu anderen."
Die Therapeutin Frankenberger schlägt Eltern ausserdem vor, die Kinder ihre Langeweile nicht nur aushalten zu lassen, sondern selber Vorbilder im Müssiggang zu sein: "Ich sitze hier jetzt mal und tue nichts." Wer das vorlebt, mache seinen Kindern ein grosses Geschenk fürs Leben.
Zu den Personen:
- Anette Frankenberger arbeitet in München als systemische Paar- und Familientherapeutin sowie Supervisorin seit 1994 in eigener Praxis. Seit 1989 ist sie als Dozentin in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung tätig.
- Manfred Spitzer ist ein deutscher Neurowissenschaftler, Philosoph, Buchautor und Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III in Ulm
Weitere Quellen:
- Kölner Stadtanzeiger: "Hirnforschung - Faulenzen macht klug!"
- Die Zeit: "Vom geistreichen Nichtstun" (Beschreibung von Marcus Raichles Experiment)
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