Die Einschulungspraxis beeinflusst, wie häufig bei Kindern das Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) diagnostiziert wird. Das zeigt eine Analyse aus Taiwan. Eltern sollten sich über den möglichen Schulanfang ihrer Kinder also ausgiebig Gedanken machen.
Früh eingeschulte Kinder bekommen häufiger die Diagnose ADHS. Das zeigt eine Analyse von Schülern in Taiwan. "Unsere Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, die Altersstufe eines Kindes innerhalb seiner Klasse zu berücksichtigen, wenn es um eine ADHS-Diagnose und die Verschreibung von Medikamenten geht", betont Hauptautor Mu-Hong Chen vom Veterans General Hospital in Taipeh. Eine Studie in Deutschland war im Jahr 2016 zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.
Die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern hat in den vergangenen Jahren in vielen Ländern weltweit deutlich zugenommen. Viele Experten sehen das kritisch - zumal die Diagnose stigmatisierend wirken kann und die Medikamente starke Nebenwirkungen haben können. Dass es starke Schwankungen in der Diagnostik gebe, zeigten die ADHS-Raten in verschiedenen Ländern, schreiben die Forscher: In den USA liege sie zum Beispiel bei 15 Prozent der Kinder, in Europa nur bei etwa fünf Prozent.
Klarer Zusammenhang zwischen Einschulung und ADHS
Die Forscher um Mu-Hong Chen vom Veterans General Hospital in Taipeh hatten für die Studie die Daten von fast 380.000 Kindern zwischen 4 und 17 Jahren aus den Jahren 1979 bis 2011 ausgewertet. Als Stichtag zur Einschulung gilt in Taiwan der 31. August. Die Forscher prüften, wie viele der jüngsten eingeschulten Kinder (geboren im August) und wie viele der ältesten (geboren im September) die Diagnose ADHS hatten oder sogar Medikamente dagegen bekamen.
Einen klaren Zusammenhang zwischen Alter und ADHS-Diagnose-Rate habe es bei den Vorschul- und Grundschulkindern, nicht aber bei den Jugendlichen gegeben, schreiben die Forscher. Dies weise darauf hin, dass die einschulungsbedingten Unterschiede mit zunehmendem Alter und zunehmender Reife schwänden.
Je früher die Einschulung, desto höher das Risiko
Bei den Kindern stieg die Rate mit jedem früheren Geburtsmonat an: Von 1,8 Prozent bei den September-Geborenen auf 2,9 Prozent bei den fast ein Jahr jüngeren August-Geborenen. Jungen waren dabei weit häufiger betroffen als Mädchen.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) - auch als Zappelphilipp-Syndrom bekannt - zählt zu den am häufigsten diagnostizierten neuropsychischen Störungen in westlichen Ländern. Die Ursachen sind komplex und nicht im Detail verstanden.
Ein Hauptsymptom ist mangelnde Konzentrationsfähigkeit, auch leichte Ablenkbarkeit, mangelndes Durchhaltevermögen sowie Impulsivität und Zappeligkeit sind typisch. Die Übergänge zu alterstypischen Facetten sind allerdings fliessend, zumal auch Erziehung und Alltagsorganisation eine Rolle bei der Ausprägung spielen.
Studie lässt sich auch auf Deutschland anwenden
Auch für Deutschland gilt, dass Kinder, die vergleichsweise früh in die Schule kommen, besonders häufig als hyperaktiv und unaufmerksam beurteilt werden und eher die Diagnose ADHS bekommen. Das zeigte eine 2015 vorgestellte Studie des Versorgungsatlasses des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung und der Universität München.
Von den Kindern, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, erhielten 5,3 Prozent im Laufe der nächsten Jahre die Diagnose ADHS. Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Studie waren es 4,3 Prozent.
Bundesländer reagieren auf zu frühes Einschulen
Einige Bundesländer hatten vor einigen Jahren begonnen, das Einschulungsalter herabzusetzen. Zu Tausenden wurden Kinder schon mit fünf Jahren eingeschult, in Bayern und Berlin zum Beispiel. "Dieser Trend hat allerdings nur kurz angehalten", sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV) und stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) für Schul- und Bildungspolitik.
Schnell sei deutlich geworden, dass es vielfach nicht günstig sei, schon Fünfjährige dem in Deutschland sehr leistungsorientierten Schulsystem auszusetzen. "Viel ist da inzwischen wieder zurückgenommen worden, ziemlichen Wirrwarr gibt es allerdings immer noch."
Als eine Ursache dafür, dass wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag so gravierende Folgen haben können, wird vermutet, dass das Verhalten der jüngeren und oft unreiferen Kinder mit dem ihrer älteren Klassenkameraden verglichen und in der Folge häufiger als auffällig empfunden wird. Aufmerksamkeitsfähigkeit und Fähigkeit zur Impulskontrolle eines Kindes sind entwicklungsabhängig - schon eine kurze Zeitspanne kann einen grossen Unterschied machen.
Urteil sollte nicht generalisiert werden
Viele Experten sehen eine flexiblere Einschulungspolitik als Lösung an. Sie fordern, bei Einschulungsuntersuchungen verstärkt auf die kognitive und emotionale Reife des Kindes zu achten. "Die Lösung kann nur sein, Einzelfall-Entscheidungen zu treffen", betont auch Fleischmann. "Die grossen individuellen Unterschiede sollten stärker berücksichtigt werden."
Nach Daten des Statistischen Bundesamtes wurden 2014 gut 2,7 Prozent der 668.183 Erstklässler an Grundschulen vorzeitig, also sogar noch vor dem vielerorts nach wie vor frühen Stichtag des jeweiligen Bundeslandes eingeschult. In mehr als 60 Prozent der Fälle handelte es sich um Mädchen. Umgekehrt waren die gut 42.300 verspätet eingeschulten Grundschüler zu gut 60 Prozent Jungen. © dpa
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