Ihre Geschichten sollte jeder gehört haben: Frauen, die über ihr Leid durch sexuelle Gewalt, die sie als Kind oder Jugendliche im Sport erlebten, berichten. Ausgerechnet im Sport, der sie stärken sollte, den sie liebten und wo sie sich sicher gefühlt hatten. Gerade dort aber wird viel verdrängt und weggesehen. Die Betroffenen wollen dazu beitragen, das zu ändern und die Menschen wachzurütteln: Schaut hin und tut etwas dagegen!
Neben Familie und Schule gibt es keinen Ort, wo sich Kinder so viel aufhalten wie im Sportverein: Sieben Millionen Kinder und Jugendliche verbringen dort deutschlandweit Zeit – die Hälfte aller Mädchen, bei den Jungen sind es sogar noch mehr. Ein Thema, das gerade in diesem Bereich verdrängt, verharmlost, verschwiegen wird: sexuelle Gewalt.
Marie Dinkel (24) ist gerade einmal elf Jahre alt, als sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert. Der Täter: ihr Judo-Trainer. Ihre Geschichte erzählt sie bei einer Podiumsdiskussion der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs:
"Wenn dieser Mann uns beim Training am Boden festhielt, konnten wir nichts mehr machen. Erst hat er uns aussen an der Hose angefasst, dann in der Hose." Zwei andere Mädchen trainieren mit und machen jeden Samstag dasselbe durch: "Jede wusste genau, was mit dem Mädchen passiert, das jetzt gerade mit ihm da auf dem Boden liegt. Das zu ignorieren und zu wissen, dass man nichts machen kann, war schrecklich."
Die Mädchen wissen: "Da stimmt irgendwas nicht." Sie beginnen, sich gegenseitig die Hosen extra fest zuzubinden, in der Hoffnung, den Täter abzuhalten: "Wir bekamen fast keine Luft mehr."
Einmal fasst der Mann Dinkel sogar bei einem öffentlichen Training an. "Ich weiss noch genau, wie ich dachte: Wieso macht der das denn vor allen Leuten? Ich weiss nicht, ob sie es gesehen haben oder nicht. Es hat jedenfalls niemand etwas gesagt."
Ihren Eltern erzählen die Mädchen monatelang nichts: "Wir dachten ja, das hat irgendeinen Grund, dass uns das passiert. Wir müssen irgendwas angestellt haben, und deshalb sind wir jetzt in dieser Situation, so als Strafe."
Leid und Schuldgefühle
Laut Silke Noack, Leiterin des Hilfetelefons Sexueller Missbrauch, ist das eine häufige Reaktion Betroffener: "Obwohl sich das Schreckliche, was sie erleben müssen, ganz falsch anfühlt, meinen sie: Ich muss es ertragen. So wird ihnen auch von den Tätern in aller Regel vermittelt: 'Das gehört dazu, du hast auch mitgemacht, und wenn Du es jemandem erzählst, passiert etwas Schlimmes.'"
Da die Kinder und Jugendlichen ihre Täter meistens kennen – fast nie sind es Unbekannte, sondern vertraute Personen, oft aus dem familiären beziehungsweise nahen sozialen Umfeld – trauen sie sich erst recht nicht, zu sprechen. Ihre Furcht: "Das wird mir sowieso keiner glauben."
Jahre später Panikattacken: "Menschen wissen nicht, was man mit sich rumschleppt"
Dinkel schafft damals den Schritt, sich ihren Eltern anzuvertrauen. Der Fall landet später vor Gericht, der Prozess erweist sich aber als enorme Belastung für die Kinder.
"Sie stellten Fragen: Wie hat er dich angefasst? Wo hat er dich angefasst? Weisst du noch, wann das war?", sagt sie. "Mein Papa war dabei. Das war einerseits wichtig, aber anderseits wollte ich auch nicht, dass er das alles hört. Dann hiess es, dass wir unsere Aussagen noch einmal in der Gerichtsverhandlung vor ihm wiederholen müssten. Das wollten unsere Eltern nicht. Er war also nur aus dem Verein geflogen, weitere Strafen gab es nicht."
Die Eltern hoffen damals, ihre Tochter würde abschliessen können. Viele Jahre gelingt es ihr, das Thema zu verdrängen – bis sie mit 18 Jahren erfährt, dass ihr früherer Trainer immer noch an einer Schule tätig ist und dort auch Judounterricht gibt.
"Da fing es an mit den Panikattacken. Ich kam aus dem Schreien oft gar nicht raus und ich musste mich danach immer übergeben." Die Ursache ist zunächst niemandem klar. Dinkel isst kaum mehr und verliert immer mehr an Gewicht: "Dadurch fiel mir der Sport immer schwerer, den hatte ich ja weitergemacht, weil ich mir das Judo nicht kaputtmachen lassen wollte."
Eine Therapeutin diagnostiziert schliesslich eine posttraumatische Belastungsstörung mit depressiven Episoden und dissoziativen Zuständen, bedingt durch die sexuelle Gewalt. Dinkel erlernt Techniken, damit umzugehen und engagiert sich heute dafür, Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Sie ist sich sicher: "Da wird so viel totgeschwiegen."
Das bewegt sie dazu, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen: "Mir wurde klar, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, was man da mit sich rumschleppt. Ich weiss, dass es wahrscheinlich sehr viele gibt, die betroffen sind, aber sich nicht trauen, darüber zu sprechen", sagt sie bei der Podiumsdiskussion.
Abhängigkeiten, Vertrautheit und kein Mangel an Gelegenheit im Sport – gewaltige Dunkelziffer
Wie viele Fälle es geben könnte, ist Gegenstand der Forschung. Allgemein wird bei sexuellem Missbrauch von einer gewaltigen Dunkelziffer ausgegangen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder betroffen sind. Was den Sport betrifft, ruft die Kommission derzeit Betroffene dazu auf, sich zu melden. Rund 100 Menschen aus dem Breiten- und Spitzensport haben das bislang getan. Einen Anhaltspunkt für das tatsächliche Ausmass gibt die Studie "Safe Sport" der Uniklinik Ulm und der Deutschen Sporthochschule Köln im Leistungssport:
- Von 1.800 befragten Kaderathleten und -athletinnen gaben 54 Prozent an, sexualisierte Gewalterfahrungen innerhalb oder ausserhalb des Sports gemacht zu haben.
- 37 Prozent erlebten sexualisierte Gewalt im Sportbereich.
- Elf Prozent waren von schwerer sexualisierter Gewalt, und/oder länger dauernden sexuellen Belästigungen im Sport betroffen.
"Am häufigsten passiert Missbrauch im familiären Umfeld, aber auch im Sport finden wir dieses Verhältnis von Nähe und Vertrauen, das von Tätern ausgenutzt wird", analysiert Studienautorin und Sportsoziologin Bettina Rulofs, die an der Bergischen Universität Wuppertal zu dem Thema forscht. Täter fänden im Sport verschiedene Gelegenheiten, Zugriff auf den Körper zu bekommen. Ein weiterer Faktor seien neben den Abhängigkeiten –Trainer nominieren etwa für Wettbewerbe – die Geschlechterverhältnisse: "Positionen in der Führung und beim Training im Sport sind häufig von Männern besetzt – und sexuelle Gewalt wird in allen gesellschaftlichen Bereichen am häufigsten von Männern ausgeübt."
Oft sind genau diejenigen die Täter, von denen man es am wenigsten gedacht hätte. Das zeigt die Geschichte von Gitta Schwarz. Sie liegt schon 30 Jahre zurück, doch wirklich verheilt sind die Wunden nie.
Schwarz kannte ihren Reitlehrer bereits seit fünf Jahren. Er war über 60, im Verein hoch angesehen und für alle eine Autorität. Als er ihr das erste Mal unter den Pulli an die Brust fasst, ist sie 15 Jahre alt: "Wenn wenig Betrieb war, zog er seine Hose aus und nötigte mich dazu, ihn oral zu befriedigen", erzählt Schwarz. Diese Art und Weise der Tat löst bei ihr Schuldgefühle aus: "Dass ich dabei selbst aktiv war – das ist etwas, wofür ich mich heute noch schäme."
Vater glaubt der Tochter nicht: "Der Moment, in dem ich den Glauben an alles verlor"
Eineinhalb Jahre dauert damals ihr Martyrium. Ihr Freund erfährt es schliesslich aus ihrem Tagebuch und bringt sie dazu, sich den Eltern anzuvertrauen. "Als ich es meinem Vater erzählte, kam der Moment, wo ich den kompletten Glauben an alles verloren habe. Er sagte, das bilde ich mir alles nur ein, das könne nicht sein: 'Der ist Oberstleutnant, das macht der nicht! Doch nicht ER! Der weiss doch, was sich gehört! Wieso denkst du dir denn sowas aus?'"
Die Mutter fragt, ob Gitta denn noch weiterreiten möchte. "Ich habe das Reiten ja geliebt, und ich wollte meinen Vater nicht noch weiter verärgern. So sagte ich ja. Meine Eltern wussten es jetzt, wir sind nach wie vor gemeinsam hingefahren, denn mein Vater ritt auch. Und niemand hat mit diesem Mann geredet."
Das junge Mädchen bricht schliesslich zusammen, immer wieder: "Ich bin zuhause schreiend auf dem Wohnzimmerboden zusammengeklappt und hatte immer das Gefühl, mich zieht irgendwie jemand an den Füssen durch den Teppich nach unten."
Während sich der Vater sorgt, was die Nachbarn denken könnten, geht die Mutter schliesslich mit der Tochter zu einer Ärztin. Die gibt den Rat: "'Sag deinen Eltern, dass du nicht mehr Reiten gehen möchtest.' Und das habe ich gemacht und dann bin ich nicht mehr geritten. Damit wurde mir das Liebste genommen, was ich eigentlich hatte. Es waren immer die Pferde, die für mich da waren und mit denen ich geredet habe. Jetzt noch triggert der Geruch von Pferden etwas in mir: Ich bekomme dann nachts Albträume und wache schreiend auf."
Heute wünscht sie sich, dass die Wunden weiter heilen und sie ihren Sehnsüchten eines Tages wieder nachgeben kann: "Dass ich mich mal wieder auf einen Pferderücken setzen und losreiten kann." Und noch etwas anderes: "Dass die Betroffenen nicht diejenigen sind, die erklären müssen, dass es so etwas gibt. Dass die Gesellschaft endlich begreift und umdenkt!"
Wenige Schutzmassnahmen in Vereinen verpflichtend
Das ist auch die einhellige Botschaft der Experten bei der Podiumsdiskussion. Zu oft seien es die Betroffenen, die anstelle der Täter den Verein verliessen, viel zu viel werde weggesehen, die Eltern seien zu wenig eingebunden in die Aufklärung, die Mängel bei Schutzmassnahmen erheblich. Hier fällt vor allem der Unterschied zwischen Leistungs- und Breitensport auf: "Die Verbände im Spitzensport müssen eine sogenannte Eigenerklärung abgeben, mit der sie sich verpflichten, bestimmte Massnahmen zum Schutz der Kinder verpflichtend einzuführen", fasst Rulofs zusammen, "ansonsten erhalten sie keine Fördergelder durch das Bundesinnenministerium."
In Vereinen – also im Breitensport - seien bisher dagegen nur wenige Schutzmassnahmen verpflichtend. "Was im Einzelnen gilt, wird in der Regel zwischen den örtlichen Jugendämtern und den Vereinen in einer Vereinbarung festgelegt." Wie das aber in der Realität aussieht, offenbarte die "Safe-Sport-Studie" im Jahr 2016. Mehr als 13.000 der insgesamt rund 90.000 Vereine in Deutschland waren befragt worden:
- Nur 26 Prozent der Vereine gaben an, das erweiterte Führungszeugnis von Ehrenamtlichen einzusehen.
- Einen Verfahrensplan zum Umgang mit Verdachtsfällen hatten zwölf Prozent der Vereine.
- Eine Kontaktperson für Prävention sexualisierter Gewalt war bei elf Prozent benannt.
- Bestandteil der Satzung war Prävention bei sieben Prozent.
Betroffene empfehlen weibliche Vertrauensperson im Verein
Schwarz betont, sie selbst wäre als Jugendliche nie den Schritt gegangen, bei einer Beratung anzurufen: "Ich habe mich ja geschämt und dachte, ich buhle um Aufmerksamkeit – so, wie mein Vater es ja gesagt hatte." Deshalb lautet auch Dinkels Empfehlung an die Vereine: "Während der Zeit der Übergriffe und auch danach wäre eine weibliche Trainerin oder ein älteres Mädchen als Vertrauensperson hilfreich gewesen. Vielleicht hätte ich mich schneller anvertraut", sagt sie.
Wie es den anderen beiden Mädchen aus ihrem damaligen Training geht, weiss sie übrigens nicht: "Es besteht kein Kontakt mehr, sie möchten nicht mehr über das Thema sprechen", sagt sie ohne Vorwurf. Mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit möchte sie eines erreichen: "Dass sich mehr Frauen dafür einsetzen, dass sich etwas ändert und offen darüber sprechen."
Neben ihrem Job als Physiotherapeutin arbeitet sie heute selbst als Trainerin: "Weil ich hoffe, dass ich mit dem, was ich erlebt habe, anderen helfen kann. Damit ihnen das nicht passiert."
Verwendete Quellen:
- "Sexueller Kindesmissbrauch im Sport": 4. Öffentliches Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
- Silke Noack ist Sozialpädagogin und Leiterin des Verein N.I.N.A. e. V. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen) in Kiel.
- Prof. Dr. Bettina Rulofs ist Sportsozilogin an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Ungleichheits- und Geschlechterforschung im Sport, Jugendarbeit und Sport, Gewaltprävention und Kinderschutz im Sport, Umgang mit Heterogenität sowie Diversitäts-Management.
- "Safe Sport": Studie der Uniklinik Ulm und der Deutschen Sporthochschule Köln, 2015/16.
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