Ganze Generationen von Kindern sind mit "Bibi Blocksberg" oder "Die drei ???" aufgewachsen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden – aber Hörspiele ersetzen nicht das Vorlesen. Eine Expertin erklärt, warum.

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Man macht es sich auf dem Sofa oder im Bett gemütlich, dimmt das Licht. Das Kind kuschelt sich an – und schon kann das Abenteuer Vorlesen beginnen. Pro Jahr erscheinen auf dem deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt rund 7.500 neue Titel – doch nicht alle Kinder kommen in den Genuss dieser Werke.

Einem Drittel der Kinder in Deutschland wird nicht vorgelesen

Laut der repräsentativen Studie "Vorlesemonitor 2024" wird rund einem Drittel der Kinder in Deutschland nur selten bis nie vorgelesen. Selten bedeutet: höchstens einmal pro Woche. Dieser Wert hat sich seit der ersten Erhebung 2007 nur wenig verändert und betrifft sowohl Familien mit als auch Familien ohne Migrationshintergrund – und vor allem die ganz Kleinen sowie Schulanfängerinnen und -anfänger.

"Vorlesen fördert nachweislich die Empathie."

Simone C. Ehmig, Kommunikationswissenschaftlerin

Dabei sind sich Expertinnen und Experten einig, dass man auch schon kleinen Kindern regelmässig vorlesen sollte. "Vorlesen ist kein 'nice to have', sondern wichtig für die Entwicklung der Kinder", sagt Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung in Mainz.

Kinder erlernten beim Vorlesen neue Wörter, entwickelten ein besseres Sprachgefühl, könnten beim Lauschen der Geschichten ihrer Fantasie freien Lauf lassen und lernten gleichzeitig, sich in die Gefühlslage der Heldinnen und Helden ihrer Kinderbücher hineinzuversetzen. "Vorlesen fördert nachweislich die Empathie. Kinder erleben in den Geschichten, wie es Menschen ergehen kann, wie Menschen miteinander umgehen", sagt Ehmig.

Hörspiele: Ersatz für das Vorlesen?

All das sind gute Argumente, die jedoch auch ein Hörspiel oder Hörbuch leisten könnte. Ganze Generationen sind mit Klassikern wie "Benjamin Blümchen als Wetterhahn", "Bibi Blocksberg und die Kuh im Wohnzimmer", "TKKG: Wilddiebe im Teufelsmoor" oder "Die Drei ??? und das Gespensterschloss" aufgewachsen. Es ist ja auch herrlich praktisch: Ein Knopfdruck – und die Kinder versinken in den Geschichten um einen törrööööötenden Elefanten. Muss man als Elternteil also unbedingt selbst zum Buch greifen?

"Es ist gut, wenn Kinder auch Hörspiele hören", sagt Simone Ehmig. "Aber ein Ersatz für das Vorlesen ist es nicht." Der Hauptunterschied liege darin, dass Kinder die Hörspiele in der Regel alleine hören und die Geschichten immer weiterlaufen – egal, ob das Kind eine Frage dazu hat oder einen Gedanken äussern möchte.

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Beim Vorlesen bleibt hingegen Raum, innezuhalten, zurückzugehen oder vorzuspringen, Illustrationen gemeinsam zu entdecken oder eigene Worte zur Geschichte zu formulieren. "Im Idealfall heisst Vorlesen nicht, einer liest und der andere hört nur zu. Es ist vielmehr ein Dialog", sagt Ehmig. Oft betreffen die Geschichten auch den Alltag der Kinder. So können Erlebnisse zur Sprache kommen und Kinder bei der Verarbeitung von Alltagserlebnissen unterstützen. "Das Vorlesen zeichnet sich durch die ganze Interaktion aus. Es schafft Nähe und fördert die Bindung zwischen Eltern und Kind."

Kinder, denen vorgelesen wird, lernen schneller lesen

So verbinden Kinder Texte schon früh mit etwas Positivem und das weckt die Lust, selbst lesen zu lernen. In der Regel lernen Kinder, denen vorgelesen wird, schneller lesen als Kinder, bei denen das nicht der Fall war, sagt Ehmig. "Einfach, weil sie im Umgang mit Texten vertraut sind."

Mütter und Väter, die nicht vorlesen, können zudem eigenen Angaben im Rahmen des Vorlesemonitors zufolge nur selten einschätzen, ob ihr Kind Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen hat oder nicht. Das wirkt sich auch später auf den Schulalltag aus, in dem ständig gelesen werden muss. Nicht selten haben Kinder, denen vorgelesen wird, laut Stiftung Lesen bessere Noten.

Viele gute Gründe für das Vorlesen – doch warum tut es ein Drittel der Eltern trotzdem nur selten oder nie? "Ein ganz wichtiger Faktor ist die eigene Erfahrung in der Kindheit", sagt Ehmig. Wurde den Eltern früher selbst vorgelesen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch ihren Kindern später vorlesen. "Dann ist es ganz egal, welche Herkunft oder welchen Bildungsgrad sie haben."

Vorlesen: Es muss nicht immer ein Buch sein

Ein weiterer Grund sind überhöhte Vorstellungen und Ansprüche. "Viele Eltern glauben, sie müssten daraus etwas ganz Besonderes machen und immer alles schön herrichten. Aber das passt nicht zur Lebensrealität vieler Eltern und sie nehmen es als Überforderung wahr", sagt Ehmig.

Dabei spielt es jedoch keine Rolle, ob die Geschichten aus einem Buch, von einem Tablet, E-Reader oder Smartphone vorgelesen werden. "Das erscheint auf den ersten Blick vielleicht nicht so gemütlich", sagt Ehmig. "Aber das Smartphone ist eben immer dabei – auch im Wartezimmer beim Arzt." So entdecken Kinder auch, dass in einem Smartphone nicht nur Bilder, Videos und Spiele stecken, sondern auch spannende Texte.

Die Expertin rät Eltern, situative Möglichkeiten zum Vorlesen zu nutzen. "Das muss nicht immer eine halbe Stunde sein, das können auch nur ein paar Minuten sein – zwischendrin, wenn man unterwegs ist."

Neben der vermeintlich fehlenden Zeit oder zu hohen atmosphärischen Ansprüchen stehen dem Vorlesen oft auch Unsicherheiten und Selbstzweifel der Eltern im Weg – von schlechten Lesefähigkeiten bis zu mangelnden Deutschkenntnissen. "Wir müssen die Erwartung aufgeben, dass Vorlesen immer auf Deutsch und immer perfekt sein muss", sagt Ehmig.

Eltern sollten in der Sprache vorlesen, in der sie sich am wohlsten fühlen. Nur so könne Vorlesen in Familien selbstverständlich werden. Das scheitert jedoch oftmals daran, dass Eltern wenig Lesestoff in ihrer eigenen Sprache finden. Die Stiftung Lesen hat dafür beispielsweise das Programm "Vorlesen in allen Sprachen" ins Leben gerufen.

Seit Oktober 2023 gibt es neun beliebte Vorlesetitel für Kinder nun auch auf Arabisch, Farsi, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Türkisch oder Ukrainisch. Die Idee: Kitas lesen die Geschichten in deutscher Sprache vor und die Eltern zu Hause in ihrer Muttersprache. "So hat das Kind das Erlebnis, dieselbe Geschichte mit verschiedenen Leuten in verschiedenen Sprachen zu lesen", sagt Ehmig.

Aber was, wenn man sich trotzdem davor scheut, dem eigenen Kind vorzulesen – weil man sich selbst für eine schlechte Vorleserin oder einen schlechten Vorleser hält? "Es muss nicht perfekt sein, es darf auch mal stocken", sagt Ehmig. "Das Wichtigste ist: einfach machen."

Über die Gesprächspartnerin

  • Prof. Dr. Simone C. Ehmig ist Kommunikationswissenschaftlerin und leitet seit 2009 das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.

Verwendete Quellen

Kinder kannten nach Lockdown deutlich mehr Worte – weil Eltern eines häufiger taten

Eine aktuelle Studie zeigt einen sehr positiven Effekt der Lockdowns für Kleinkinder: Sie kannten deutlich mehr Wörter. Die Forscher und Forscherinnen führen das aufs Vorlesen zurück. Kinder werden dabei aus verschiedenen Gründen besonders gefördert. (Vorschaubild: istock/evgenyatamanenko)
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