Das Shifting-Baseline-Syndrom kann erklären, warum viele Menschen auch angesichts der bereits sichtbaren Auswirkungen der Klimakrise nicht unbedingt einen Anlass für mehr Klimaschutz sehen. Hier erfährst du, was es mit dem Syndrom auf sich hat.
Wie häufig trauerst du um Arten, die schon lange Zeit vor deiner Geburt ausgestorben sind? Oder um Ökosysteme, die vor langer Zeit zerstört wurden? Die meisten müssten an dieser Stelle wohl zugeben, dass sie das eher selten oder gar nicht tun. Das erscheint zunächst einmal nicht verwunderlich. Schliesslich konzentrieren sich Menschen häufig eher auf aktuelle Zeitgeschehnisse als auf Ereignisse aus der Vergangenheit.
Für die Umwelt kann das jedoch fatale Folgen haben: Denn es kann dazu führen, dass wir den Verlust von Tier- und Pflanzenarten oder andere Veränderungen unseres Planeten, die schon länger zurückliegen, nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen nehmen wir den jeweiligen Status Quo als Normalzustand wahr. Und genau auf dieses Phänomen bezieht sich das Shifting-Baseline-Syndrom.
Was ist das Shifting-Baseline-Syndrom?
Das Shifting-Baseline-Syndrom (deutsch: Syndrom der verschobenen Basislinie) beschreibt die Tatsache, dass sich unsere Wahrnehmung von Umwelt- oder Naturzuständen über die Zeit schrittweise verändert, wie Klimareporter beschreibt. Das führt dazu, dass sich jede Generation an neue, oft reduzierte Umweltbedingungen anpasst und die aktuellen Bedingungen als die normalen oder natürlichen annimmt, ohne den Verlust oder die Veränderung im Vergleich zu früheren Generationen zu erkennen.
Wenn also etwa eine Meeresbiologin noch an lebendige und bunte Korallenriffe gewöhnt ist und plötzlich nur noch weissen, toten Riffen begegnet, wird sie entsprechend schockiert oder traurig reagieren. Wenn folgende Generationen bunte Korallenriffe nur noch von "alten" Dokumentationen kennen, finden sie sich hingegen mit den toten oder verschwundenen Riffen als dem neuen Normalzustand ab. Dieses Szenario lässt sich auf jeden Aspekt des aktuell stattfindenden Artensterbens übertragen.
Auch bezüglich der Klimakrise lässt sich ein Shifting-Baseline-Syndrom feststellen. Denn auch hier passt sich das Gehirn an den aktuellen Status Quo an: So nehmen Menschen mit der Zeit etwa vermehrte Naturkatastrophen, heissere Sommer und andere Wetterextreme als den neuen Normalzustand an. Wenn sich in diesen Bereichen der Massstab so stark verschiebt, kann es dazu führen, dass Generationen immer weniger einen Anlass dafür sehen, Klimaschutz zu betreiben.
Wie entsteht das Shifting-Baseline-Syndrom?
Laut einer Studie von Soga und Gaston aus dem Jahr 2018 ist das Shifting-Baseline-Syndrom auf drei zentrale Ursachen zurückzuführen:
- Zunächst einmal gibt es kaum Zugang zu Informationen, die abbilden, wie Tier- und Pflanzenbestände vor dem Artensterben aussahen. Dementsprechend fehlt es hier an entscheidenden Referenzpunkten, um die Auswirkungen des Menschen abschätzen zu können.
- Zweitens führen die Forschenden das Shifting-Baseline-Syndrom auf eine mangelnde Verbindung zur Natur zurück. Wenn viele Menschen tagsüber nur noch in Innenräumen und Städten sind und dabei kaum Kontakt zu Naturräumen, wilden Pflanzen und Tieren haben, so können sie die aktuellen Umweltprobleme im Alltag leichter vergessen.
- Drittens haben immer mehr Bevölkerungsschichten immer weniger Wissen über die Natur. Lesen Menschen dann etwa, dass Arten ausgestorben sind, die sie noch nie vorher gesehen haben oder deren Namen sie nicht kennen, so reagieren sie auf diese Neuigkeit entsprechend weniger schockiert.
Der Artikel aus dem Klimareporter nennt auch die Arbeitswelt als eine zentrale Ursache des Shifting-Baseline-Syndroms. So hätten viele Menschen in einer 40-Stunden-Woche schlichtweg kaum Zeit, sich mit anderen Problemen zu befassen. Zudem fördere ein Job die Entfremdung von der Natur, wenn Menschen dabei fast ausschliesslich in Bürogebäuden sitzen.
Für mehr Umweltbewusstsein: Vier Massnahmen
Soga und Gaston beschreiben in ihrer Studie vier Massnahmen, die gegen das Shifting-Baseline-Syndrom helfen könnten:
- Mit aktuellen Daten über Tier- und Pflanzenbestände, historischen Berichten und entsprechenden Computerprogrammen könnte man ermitteln, wie der ursprüngliche Zustand unseres Planeten aussah, bevor die Menschen immer mehr in die Umwelt eingriffen. Dies könnte einen Anlass dafür geben, den aktuellen Massstab zu hinterfragen und wieder ein höheres Bewusstsein für die bereits erfolgten fatalen Auswirkungen menschlichen Handelns zu bekommen.
- Zudem müssen Menschen ihre Verbindung zur Natur stärken. Dafür sollte es etwa Menschen in Städten leichter gemacht werden, Naturgebiete zu besuchen. Dazu sind bereits naturbelassene Wiesen ausreichend.
- Auch die Wissensvermittlung über Naturgebiete, Tier- und Pflanzenarten sowie die Klimakrise muss gestärkt werden. Das sollte laut den Autor:innen der Studie dabei nicht nur in der Schule passieren.
- Nicht zuletzt sollte die Gesellschaft versuchen, möglichst viele natürliche Lebensräume wiederherzustellen. Das kann dazu führen, dass sich immer mehr Menschen daran gewöhnen, intakte Ökosysteme zu besuchen und dadurch den Massstab entsprechend verändern.
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