Während der Kapitän sich vor Gericht verantworten muss, sind die Inselbewohner von Giglio den zweiten Sommer über verdammt, mit den Überresten der "Costa Concordia" zu leben. Das Wrack bringt der beschaulichen Inselhauptstadt zwar viele Tagestouristen, aber die "fahren gleich wieder und essen nichts". Die Stammgäste wollen ihren Urlaub nicht mit dem Blick auf eine Katastrophe verbringen - und bleiben weg. Der Ruf des Inselparadies im Mittelmeer wird so nachhaltig ruiniert - und eine Ende ist nicht in Sicht.
Den 13. Januar 2012 werden die Bewohner der Insel Giglio so schnell nicht vergessen. Schlimmer noch: Inzwischen gibt es auf Giglio eine Zeitrechnung vor und nach dem Schicksalstag im mediterranen Winter. Giglio vor dem 13. Januar, das war ein beschauliches Paradies und praktisch das Sinnbild einer Mittelmeerinsel.
Geheimtipp für Taucher und Individualtouristen
Das Eiland, das eigentlich ein Felsen ist, misst nur knapp neun Kilometer in der Länge und 4,5 Kilometer in der Breite. Pittoreske ehemalige Fischerhäuser zieren die kleine Bucht der Inselhauptstadt. Für eine Fahrt über die Insel können hier Motorroller ausgeliehen werden. Giglio, das war der Geheimtipp für Taucher und Individual-Touristen, die ein Urlaubsziel abseits der Bettenburgen und All-Inclusive-Paläste suchten.
Ganz sicher war die Insel kein Ziel für jene rund 3.200 Passagiere, die mit dem schwimmenden Vollversorgungs-Hotel "Costa Concordia" in jener Nacht direkt vor der Hafeneinfahrt von Giglio in Seenot gerieten. Als der havarierte Koloss sich auf die Seite legte, wuchsen die Einwohner der rund 1.400 Köpfe zählenden Inselgemeinde über sich hinaus. Mit Booten, heissen Getränken und Notunterkünften wurden die Insulaner zu den Helden jener Katastrophe, die so viel mit Überheblichkeit, Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit zu tun hatte - und 32 Menschen das Leben kostete.
Romantischer Bummel mit Katastrophenblick
Manche der Verantwortlichen sind mittlerweile verurteilt worden. Der Prozess gegen den wie aus einer Hollywood-Parodie daher kommenden Kapitän Francesco Schettino dauert noch an. Wahrscheinlich wird sie die Katastrophe bis an ihr Lebensende verfolgen. Doch auch die Insel-Bewohner und Besucher können bis heute nicht mit jener Nacht im Januar 2012 abschliessen. Denn die "Costa Concordia" liegt wie ein Mahnmal in ihrer Hafeneinfahrt.
Das Wrack ist das erste, was Besucher sehen, wenn sie mit der kleinen Fähre vom italienischen Festland kommen und das letzte, wenn sie die Insel wieder verlassen. Es dominiert den Blick aufs Meer. Immer, auch wenn man spät abends noch einen gemütlichen Bummel an der romantischen Uferpromenade unternehmen will.
Erinnerungsfotos schon auf der Fähre
Das Problem ist, dass die meisten Besucher dann gar nicht mehr da sind. Giglio ist zu einem Zentrum des Katastrophen-Tourismus geworden: Die Schaulustigen buchen Tagestouren. Schon auf der Fähre versuchen sie möglichst frühzeitig, das Wrack mit ihren Tele-Objektiven zu fotografieren. Ist es in Sichtweite, werden weitere Erinnerungsfotos geschossen.
Einmal am Land strömen die Touristen die Uferpromenade entlang Richtung Schiffswrack. Ganz am Ende kann man sich an der Felsenküste sonnen - mit exklusivem Blick auf die Wasserrutsche auf dem Oberdeck des einstigen Stolzes der Costa-Rederei. Mit dem Teleobjektiv ist es sogar möglich, durch die zerborstene Kuppel in den Ballsaal des Schiffs reinzuschauen: Man sieht verrottete Pflanzen und Barhocker.
Keine "Costa Concordia"-Schneekugeln
Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass die Inselbewohner gut leben könnten von den Katastrophen-Touristen: "Die blockieren die Promenade und sie essen nichts", beschwert sich der Betreiber eines Restaurants. Die Inselbevölkerung will mit der Katastrophe nicht in Verbindung gebracht werden, es gibt keine Postkarten mit der "Costa Concordia", auch keine Schneekugeln oder Kugelschreiber, obwohl die Nachfrage mit Sicherheit da wäre.
Denn für die Stammgäste verliert die Insel unter dem Ansturm des Katastrophen-Mobs ihren Reiz. Lärmende Touristenmassen sind so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie hier suchen. Um bis zu 30 Prozent seien die Buchungszahlen für Übernachtungen 2012 zurückgegangen, heisst es aus offiziellen Kreisen. Niemand verbringt gerne seinen Urlaub im Angesicht einer Katastrophe, die 32 Menschen das Leben kostete. Giglio ist jetzt ein gebrandmarkter Ort, wie Eschede oder Lockerbie.
Als Geisterschiff in die Abwrackwerft
Das könne sich wieder ändern, die Schönheit der Insel die Katastrophe überstrahlen, "wenn denn endlich das Wrack hier verschwindet", glauben viele Insulaner. Es sollte längst weg sein, doch die Bergung gestaltet sich viel schwieriger als gedacht. Nach derzeitiger Planung soll sich die "Costa Concordia" im September 2013 wieder aufrichtet und eine letzte Fahrt in die Abwrackwerft antreten.
Auch dieser Termin wird ein "hoffentlich letztes Highlight" für die Schaulustigen sein, glaubt ein Hotelbesitzer. Dann könne endlich wieder Ruhe einkehren auf Giglio, dem Felsen im Mittelmeer.
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