Am 1. Juni 2016 werden alle Scheinwerfer auf den Gotthard und die feierliche Eröffnung des längsten Eisenbahntunnels der Welt gerichtet sein. Doch der Gotthard ist viel mehr als ein "einfaches" Loch im Berg. Finden Sie hier mehr heraus über dieses mythenumrankte Bergmassiv mitten im Herzen Europas.
Monte Tremulo, Mons Ursarie, Mons Elvelinus und Monte Sancti Gutardi. Die Namen, die der Gotthard früher hatte, sind zahlreich. Wie auch die Geschichten, die Bedeutungen und Visionen, die dieses Bergmassiv im Lauf der Jahrhunderte umrankten. Massiv, nicht Berg: Tatsächlich gibt es keinen Gipfel dieses Namens.
1. Der Gotthard ist ein Mythos
Die Gotthardregion, Schauplatz des Schwurs zwischen den ersten Eidgenossen 1291 und Ort des Widerstands gegen die Habsburger, verfügt über eine ganz eigene Aura. Weder dem Matterhorn noch irgendeinem anderen Schweizer Berg wird ein solch symbolischer Wert zugeschrieben wie diesem Bergmassiv: Es ist Wiege der Eidgenossenschaft, Herz der Alpen, Kreuzweg der Völker und Kulturen, Quelle grosser europäischer Flüsse und Symbol der Unabhängigkeit und Identität des Landes.
Eine Vermischung von Mythen, die Daniel Morerod, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Neuenburg, in diesem Artikel in der "Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung des Gotthards im 13. Jahrhundert und dem Aufstand der Urschweizer gegen die Habsburger" sieht.
Der Schriftsteller Peter von Matt bezeichnet den Gotthard als "helvetischen Sinai", der "ein Teil der politischen Selbstverklärung der Schweiz" sei. Doch nicht alles, was über den Gotthard erzählt werde, entspreche der Wahrheit, erklärt von Matt in diesem Interview.
Und während langer Zeit habe man angenommen, der Gotthard sei der höchste Berg der Alpen. Erst im 18. Jahrhundert sei man davon weggekommen, erklärt der Historiker Ralph Aschwanden.
2. Der Gotthard ist eine militärische Festung
Juli 1940, um die Schweiz herum tobt der II. Weltkrieg. Während Europa von Nazideutschland terrorisiert wird, igelt sich die neutrale Schweiz um den Gotthard herum ein. General Henri Guisan setzt die Strategie des nationalen Reduits um, ein Verteidigungs-Dispositiv basierend auf Alpenfestungen, darunter besonders viele Bunkeranlagen im Gotthard-Bergmassiv.
Im Berg findet man Galerien, Tunnel, Bunker und Festungsanlagen. Die " Gotthard-Festung", deren Bau bereits während des I. Weltkriegs begonnen wurde, wird zu einer militärischen Bastion, deren Einfluss bis heute nachwirkt. Damian Zingg, Betriebsleiter der Stiftung Sasso San Gottardo, führt uns durch eine aus dem Fels gebrochene Artillerie-Festung der Schweizer Armee, die noch bis vor wenigen Jahren als geheim eingestuft war.
3. Der Gotthard ist der längste Eisenbahntunnel der Welt
Für den Gotthard sind Rekorde nichts Neues. Bereits der erste 15 Kilometer lange Eisenbahntunnel von 1882 setzte für einige Zeit einen Weltrekord, bis 1906 der Simplontunnel eröffnet wurde. Auch der Gotthard-Strassentunnel (16,9 km), 1980 eröffnet, war während einiger Zeit der längste der Welt, bis er vom Laerdal-Tunnel in Norwegen entthront wurde.
Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels wird ein neuer Weltrekord gesetzt: 57,104 km durch den Fels. Dieser sollte einige Jahre lang halten, da andere grosse sich im Bau befindliche Basistunnel wie etwa jener zwischen Turin und Lyon einige Meter kürzer sein werden.
4. Der Gotthard gehört zu den sichersten Tunnels
Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben keinen Zweifel: Der Gotthard-Basistunnel ist unter allen Blickwinkeln sicher, ob es nun um Personen- oder Gütertransporte geht. Die beiden richtungsgetrennten Tunnelröhren verhindern Kollisionen, und im Fall eines Feuers, eines Gasunfalls, einer Überhitzung der Achsen der Waggons oder einer Lastverschiebung auf Güterwagen warnen verschiedene Systeme. Züge, die den hohen Anforderungen nicht genügen, werden vor dem Tunnel gestoppt.
Alle 325 Meter verbinden zwei Seitenstollen die beiden Tunnelröhren. Somit können die Passagiere im Notfall rasch zu den Schutzräumen gelangen. Löst ein Zug einen Alarm aus, wird er automatisch zu einer von zwei Notfallstationen (Sedrun oder Faido) geleitet.
Ein Blick in den Berg zeigt ein komplexes System von Stollen und ein ausgeklügeltes Sicherheitsdispositiv.
5. Der Gotthard bringt den Norden und Süden Europas näher zusammen
Mailand eine Vorstadt von Zürich? Mit der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels und Verbesserungen auf der gesamten Strecke, besonders mit der Eröffnung des Basistunnels durch den Monte Ceneri im Kanton Tessin, werden die Wirtschaftsmetropole der Schweiz und die Hauptstadt der Lombardei näher zusammenrücken. Eine Zugreise wird weniger als drei Stunden dauern (heute sind es vier), und die beiden Städte erhalten die Gelegenheit, sich "besser kennenzulernen", wie in diesem Artikel beschrieben wird.
In einem grösseren Zusammenhang ist die Gotthardlinie eine der Hauptverbindungsachsen durch die Alpen und eine der wichtigsten Eisenbahnlinien Europas für Personen- und Güterverkehr.
Doch der Erfolg des Bauwerks und die Möglichkeit, Güter zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer zu transportieren, hängen nicht allein von den Arbeiten in der Schweiz ab. In den Nachbarländern müssen die Anschlusslinien an den Gotthard angepasst und ausgebaut werden. Die Arbeiten in Deutschland und Italien sind etwas in Verzug.
6. Der Gotthard ist ein Tunnel der Mineure und Ingenieure
Jahrhundertbaustelle, Meisterwerk der Eisenbahn-Architektur, Schweizer Juwel für Europa: Der neue Gotthard-Basistunnel ist ein Bauwerk der Superlative. Doch zuallererst ist er die Frucht der Arbeit hunderter Mineure, Arbeiter und Ingenieure, die meisten aus dem Ausland, die unter extremen Bedingungen – bei Temperaturen gegen 40 Grad – während 17 Jahren Tag und Nacht gearbeitet haben. Die oft gefährlichen Arbeiten forderten neun Menschenleben.
Den Schweiss und die Leidenschaft der Männer in Orange dokumentierte swissinfo.ch-Fotograf Thomas Kern 2009, als er einer Gruppe Tunnelarbeiter und Mineure bei ihrer Arbeit über die Schultern schauen durfte.
7. Der Gotthard steht vor einer unsicheren Zukunft
Wir sprechen hier natürlich nicht vom neuen Gotthard-Basistunnel, sondern von der alten Bergstrecke. Mit der fahrplanmässigen Inbetriebnahme des Basistunnels im Dezember ist die Zukunft der Linie von Göschenen (Kanton Uri) nach Airolo (Kanton Tessin) unsicher.
Ende 2017 läuft die Konzession für den Fernverkehr aus. Bis dann muss entschieden werden, ob die Situation unverändert bleibt oder die so genannte Bergstrecke teilweise oder vollständig dem Regionalverkehr zugeordnet werden soll.
Die Zukunft der Bergstrecke könnte durch eine Kandidatur als Unesco-Welterbe gesichert werden, argumentiert der Historiker Kilian Elsasser, der in diesem Artikel die Vorteile eines solchen Schritts erörtert.
Während die Schweizer Landesregierung wenig davon hält, erhielt die Idee kürzlich wieder Aufwind. Laut dem Schweizer Heimatschutz (SHS) soll die Kandidatur für die Aufnahme der Gotthard-Bergstrecke in die Liste des Unesco-Welterbes "unverzüglich eingereicht werden".
Die Stiftung Historisches Erbe der SBB, SBB Historic, beabsichtigt ihrerseits, die Bergstrecke mit Fahrten in historischen Zügen aufzuwerten. Beispielsweise mit ihrem Elektrozug RAe 1050, zu seiner Zeit das Flaggschiff des internationalen Netzwerks Trans Europe Express (TEE).
8. Der Gotthard wird zu Fuss (wieder-)entdeckt
Zwanzig Minuten für die Reise durch die Alpen. So lange dauert die Fahrt von Erstfeld beim Nordportal des Gotthard-Basistunnels bis nach Bodio im Tessin, wo der Tunnel endet. Zwanzig Minuten, in denen man unter der Geschichte, den Mythen und Legenden des Gotthards hindurchrast, ohne diese wahrzunehmen.
Was wäre also angebrachter, als das Gotthard-Massiv und die gesamte Region des Gotthards zu Fuss (erneut) zu entdecken? Das haben zwei Journalisten von swissinfo.ch im Sommer 2015 gemacht, woraus sie eine umfassende Multimedia-Reportage produziert haben.
Je nach Interessen, Ansichten und persönlichen Erlebnissen schreibt also jede und jeder dem Gotthard eine gewisse Bedeutung zu. Für den Schreibenden ist es zuvorderst eine Barriere, welche die italienischsprachige Schweiz im Süden von der deutschsprachigen im Norden trennt, also seinen Geburtsort von seinem Arbeitsort. Was die Kultur, die Lebensart und ganz sicher die Wetterbedingungen betrifft, gibt es ganz klar ein "diesseits und jenseits des Gotthards".
Was bedeutet der Gotthard für Sie? Schreiben Sie uns ihre Kommentare, teilen Sie ihre Überlegungen mit uns, erzählen Sie von Ihren Erlebnissen.
© swissinfo.ch
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