Aaiún Nin schreibt Gedichte über die eigene Entwurzelung aus Angola, gegen Homophobie und Rassismus. Eine poetische Rückeroberung der eigenen Biographie, die immer wieder neu anfängt.
Seit März 2023 lebt, malt und schreibt Aaiún Nin als Artist in Residence des Deutschschweizer PEN-Zentrums in Bern. Über verschiedene Stationen in Afrika und Europa ist Nin aus Angola in die Schweiz gekommen. Geboren wurde Nin 1991 in der angolanischen Hauptstadt Luanda. Mitten im Bürgerkrieg, der seit 1975 tobte, und während der Diktatur des Dos Santos Clans, der fast 40 Jahre die Geschicke Angolas lenkte und das erdölreiche Land dabei um Milliarden von Dollars betrog.
Dass wir in der Schweiz und in Westeuropa so wenig über Angola wissen und erfahren - dieses Schweigen sei ein Gefängnis: "Wenn es keinen Aufschrei gibt, wird es weitergehen. Die reine Grausamkeit wird einfach eine Fussnote der Geschichte sein. Für mich kann das Schweigen nicht zur Freiheit führen, denn das hat niemanden von uns gerettet." Auf Deutsch trägt der erste Lyrikband deshalb den Titel "Denn Schweigen ist ein Gefängnis".
"Ich schreibe ...
Mit sechs Jahren flüchtete Nin vor dem Krieg mit zwei älteren Geschwistern nach Zimbabwe und einige Jahre später nach Capetown in Südafrika. Dort sollte Nin 11 Jahre bleiben, die bisher längste Zeit an einem Ort. Bereits als Teenager erfährt Nin viel Fremdenfeindlichkeit: "Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, in der die Mehrheit der Menschen Schwarz ist. Aber in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents führt Stammesdenken zu einer Feindseligkeit gegenüber Schwarzen Menschen, die aus anderen Teilen der Welt kommen."
... weil Schweigen mich nicht gerettet hat"
Der nächste Umbruch führte Nin nach Dänemark. Erst dort bekommt das Schreiben eine neue Bedeutung: "Während ich auf meine Aufenthaltsgenehmigung wartete, durfte ich weder arbeiten noch studieren. Ich hatte kein Geld, aber viel Zeit. Farbe zum Malen ist teuer, zum Schreiben hingegen brauchte ich nur einen Stift und ein Stück Papier."
Nin schloss sich einem Kollektiv an und lernte die spätere Mentorin Mette Moestrup kennen. Es folgten Lesungen, Performances und schliesslich ein Verlagsvertrag: Der erste Lyrikband "Broken Halves of a Silky Sun" erschien allerdings zuerst in der dänischen Übersetzung. "Als ich mein Buch zum ersten Mal in Händen hielt, waren darin Gedichte in einer Sprache, die ich nicht lesen konnte. Es fühlte sich fast so an, als wäre ich meiner eigenen Arbeit beraubt worden.
... weil ich mich weigere, gebrochen zu werden"
Die Gedichte sind Ausdruck einer Wiederaneignung von Angola und dessen langer mündlicher Tradition: In Angola gibt es viel Musik und Spoken Word, weniger Bücher. Fiktive Erzählungen und Wakanda-Universen lenken für Nin von der Realität ab: "Unsere Geschichten werden zu oft aus der Perspektive eines Dritten erzählt, oft emotionslos und statistisch als Opferzahlen. Deshalb war es für mich wichtig, das Konzept des Ichs in meine Arbeit einzuschreiben." Dieses Ich durchbricht das Paradigma des Schweigens und erzählt vom Menschsein losgelöst von Rasse und Gender, von queerer Liebe, von Entwurzelung und Wut, und empowert "Schwarze Girls".
In Angola oder auf portugiesisch ist das Buch nicht erhältlich, die eigene Familie hat es nicht gelesen. "Wir sind ziemlich distanziert. Das ständige Umziehen und die physische Trennung führen dazu, dass ich manche Verbindungen verloren habe. Bevor ich mich geoutet habe, war es möglich, Nähe zu erhalten. Jetzt gibt es eine Realität, von der sie keine Ahnung haben. Als mir klar wurde, dass ich als queere Person in Angola niemals sicher sein könnte, wurde dieses Gefühl der Trennung immer stärker."
... denn ich bestehe nicht aus Schmerz"
"Ich erinnere mich an eines der letzten Male, als ich zur Hochzeit meiner Schwester nach Angola gereist war, und alle anmerkten, wie kalt ich geworden sei. Scheinbar hatte ich auch skandinavische Eigenheiten angenommen." Doch nach fünf Jahren lehnte Dänemark in Folge der scheinbaren Aufhebung des angolanischen Gesetzes zur Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen 2020 den Asylantrag von Aaiún Nin ab.
Auf die eigene Abschiebung wartend begann Nin mit dem zweiten Buch: "Das Schreiben wurde gewissermassen zu meinem Pass. Etwas, das es mir ermöglichte, nicht in mein Heimatland zurückzukehren, wo ich als queere Person weiterhin verfolgt würde. In meinem Fall war die aktuelle Tendenz nützlich, dass Kunst, die aus dem Leiden kommt, gerne romantisiert wird. Ich bekam Zugang zu verschiedenen Programmen - wie beispielsweise International Cities of Refuge Network (Icorn) - und damit die Aufenthaltsgenehmigung für Polen und jetzt für den Aufenthalt in Bern."
Davor kam Nin 2021 in Krakau an, eine der 100 Städte in Polen, die sich damals zur LGBTQ-freien Zone erklärten, was nach Protesten im September 2021 wieder aufgehoben wurde. In dieser christlich-konservativen polnischen Gesellschaft fühlte sich Nin wie das perfekte Feindbild: Schwarz und queer. "Ich habe bis heute Lücken in meinem Gedächtnis, wie ich es geschafft habe, dort zu leben. Ich hatte Angst und es gab kaum rassifizierte Menschen, um über diese Dinge zu sprechen." Um dieses Schweigen zu brechen, gilt es die Arbeit am zweiten Lyrikband bald abzuschliessen.
"Ich schreibe, um den Lauf der Zeit zu verlangsamen / indem ich die Tage begutachte und das Salz auskoste / Ich schreibe, um mir beizubringen, bei Zärtlichkeit nicht zusammenzuzucken / und mich den Dingen zu ergeben, die ich vielleicht niemals/ verstehen werde."*
*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA
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