Die Autorin Anne Weber besticht in ihren Büchern durch Vielseitigkeit und Experimentierfreude - etwa in ihrem jüngsten Werk "Bannmeilen". Dafür wird die gebürtige Deutsche, die seit Jahrzehnten in Paris lebt, mit dem Solothurner Literaturpreis geehrt.
Das Naheliegende ist uns oft fremder als die exotische Reisedestination. Davon erzählt Anne Weber in ihrem neuen Buch "Bannmeilen". Kaum eine Stunde Fussweg von ihrem Pariser Wohnort entfernt beginnt die Banlieue, das berüchtigte Neun-Drei, wie das Département Seine-Saint-Denis auch genannt wird. Thierry, ein Freund, schlägt ihr vor, die Bannmeile gemeinsam zu erkunden.
Auf 18 Streifzügen entdecken die beiden eine unwirtliche Gegend, die von Autobahnen durchpflügt wird, zwischen denen sich Bauschutthügel, Lagerhallen und vernachlässigte Mietskasernen erheben. Auf den ersten Blick gibt es hier nur hastig dahineilende Menschen und kaum einen Ort, der zum Verweilen einlädt. Doch ein erster Blick ist immer einer zu wenig.
Die Wunden der Geschichte
Tatsächlich stossen die Erzählerin und ihr Begleiter in einer Nebenstrasse auf eine Oase. Das kleine Café von Rachid wird ihnen Zuflucht und Zuhause. Hier erhält das Neun-Drei auf einmal ein Gesicht, treten Menschen und ihre Geschichten zu Tage, die von einem gewöhnlichen Alltag erzählen und nachdrücklich an das koloniale Erbe erinnern. Wer hier lebt, hat oft keine Wahl. "Aufgebrochen und nie angekommen" leben die Menschen, wie Thierry es beschreibt, "entre deux ailleurs, zwischen zwei Woanders".
Anne Weber erzählt von den Wunden, die der Algerienkrieg der 1960er Jahre hinterlassen hat, und von den Judentransporten, die ab 1940 im Neun-Drei Richtung Auschwitz abfuhren. Die raue, mitunter geisterhafte Bannmeile verrät mehr über eine Gesellschaft und ihre Geschichte als das verputzte feudale Zentrum.
Anne Webers Buch verführt durch die Neugier, die Wachheit und die Vielfalt der Aspekte, mit denen Thierry, der "Algerier", und die "deutsche" Erzählerin sich den Zumutungen des Neun-Drei annähern und seine verborgenen Reize entdecken. "Bannmeilen" ist so auch eine eindrückliche soziale Reportage, die weit über das Neun-Drei hinaus strahlt.
Vielfalt und Experimentierfreudigkeit sind Markenzeichen von Anne Weber. "Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus", heisst es in der Begründung der Jury des Solothurner Literaturpreises. Ganz besonders trifft dies auf "Annette, ein Heldinnenepos" von 2020 zu. Anne Weber porträtiert mit grosser Empathie eine vergessene Zeitzeugin: Anne Beaumanoir (1923-2022).
Glück im Widerstand
"Glück ist der Grundton ihres Alltags", rückt die Erzählerin die schicksalhaften Erfahrungen ihrer Heldin Anne oder eben Annette ins richtige Licht. Schon als junges Mädchen kommt sie in Kontakt mit der französischen Résistance. Diskret und verlässlich überbringt sie geheime Botschaften, organisiert Wohnungen und rettet Leben. Sie lernt zu "lügen, spitzeln, stehlen", weil der Zweck die Mittel heiligt.
Nach Kriegsende studiert Annette Medizin und heiratet einen Arzt, mit dem sie drei Kinder hat, um sich bald wieder im Geheimen, jetzt auf Seiten der algerischen Befreiungsfront FLN zu engagieren. Sie wird gefasst und in Frankreich zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Im Widerstand liegt ihr Glück, auch wenn ihr Leben dadurch schlimme Wendungen nimmt. 1944 verliert sie ihren Geliebten, der von Kollaborateuren umgebracht wird. Und 1960 verlässt sie ihren Mann und die drei Kinder, weil ihr die Flucht aus der Haft ins nordafrikanische Exil gelingt.
So widerständig und intensiv Anne Beaumanoir gelebt hat, so leidenschaftlich und berührend erzählt die Autorin Anne Weber davon. In rhythmisierten freien Versen hat sie eine Form gefunden, die offen und geschmeidig bleibt und ihre Heldin nicht in einem engen Erzählkorsett einschnürt.
Die Erzählerin selbst bleibt mit ihrer eigenen Stimme stets präsent, mit gewitzten Bemerkungen unterläuft sie das epische Pathos. "Annette, warum setzt du dein Leben ein für diese Leute?", denen es nur um Macht geht, fragt sie einmal erstaunt, doch wohl wissend, dass Annette von ihren Idealen nicht so leicht abrückt.
Anne Webers "Heldinnenepos" ist das wunderbar beglückende Beispiel, wie eine historische Erzählform, die der Verehrung männlicher Helden vorbehalten war, modern interpretiert und neu befüllt werden kann mit einer Geschichte, die so exemplarisch wie zutiefst persönlich anmutet. 2020 erhielt sie dafür den Deutschen Buchpreis.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert © Keystone-SDA
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