Wenn der Genfer Autor Daniel de Roulet einen Roman schreibt, dann treibt ihn der Widerspruchsgeist - gegenüber der offiziellen Sichtweise auf schweizerische Geschichte. Was es damit auf sich hat, erzählt er im Gespräch zu seinem 80. Geburtstag.
"Geschichte wird immer von oben erzählt, ich erzähle sie von unten", sagt Daniel de Roulet gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Zwei Beispiele dafür aus seinem jüngeren Werk sind "Die rote Mütze" (2024) und "Zehn unbekümmerte Anarchistinnen" (2017). Es geht um das Schicksal schweizerischer Söldner im einen und um forcierte Auswanderung im anderen Buch - beides historische Fakten.
"Ich finde es tragisch, dass man erzählt, die Schweiz sei immer neutral gewesen oder sie sei die älteste Demokratie der Welt", sagt de Roulet. "Aber woher unser Reichtum kommt, oder die wenig rühmliche Problematik der Söldner findet in den offiziellen Geschichtserzählungen nicht statt." Dem setzt der Autor seine Skepsis gegenüber der offiziellen Darstellung schweizerischer Geschichte entgegen, seinen Widerspruchsgeist - und zwar mit Literatur.
Fakten und Imagination
De Roulet erzählt seine Geschichten aus einer Perspektive, "wo die Fakten lückenhaft sind". Im Fall der Söldner sei gut belegt, wie die Karriere des Regimentschefs verlaufen ist. Aber wie das Leben der Söldner ausgesehen hat, das ist nicht dokumentiert. "Ich brauche also meine eigene Imagination für ein vollständiges Bild."
Dabei spricht er das Wort "Imagination" französisch aus, das sei nicht das Gleiche, wie Phantasie im Deutschen. Durch "Imagination" entstehe "une nouvelle image", ein neues Bild. "Kunst, auch die Literatur, hat mit Imagination zu tun. Es entsteht etwas Neues."
De Roulet spricht französisch und deutsch. Sein Vater kam aus der französischsprachigen Schweiz, seine Mutter aus der deutschsprachigen. Aufgewachsen ist er im protestantischen Pfarrhaus im Uhrmacherstädtchen St. Imier im Berner Jura. Der Vater sei ein den Menschen zugewandter Pfarrer gewesen, wie de Roulet in "Brief an meinen Vater" (2020) schreibt. In diesem 80-seitigen Brief zeichnet er ein liebevolles Bild seiner Eltern und seiner Herkunft; ähnlich menschenfreundlich begegnet er selber in seinen Romanen auch seinen Figuren, etwa Valentine, der Erzählerin der Auswanderinnen-Geschichte oder dem Söldner Samuel Buchaye aus Genf. Denn auch die Leserin, der Leser solle "Empathie gegenüber diesen Leuten entwickeln", sagt de Roulet im Gespräch.
Autor zeigt Haltung
Doch den Protestantismus seines Elternhauses habe er zugunsten eines Atheismus aufgegeben. "Ich bin jemand, dessen Motto 'weder Gott noch Herr' lautet." - Eine Haltung, die etwa in "Zehn unbekümmerte Anarchistinnen" deutlich durchscheint. Überhaupt macht de Roulet aus seinem eigenen "Ich" in seinen Büchern keinen Hehl. "Wenn ich denjenigen eine Stimme gebe, die keine haben, dann ist das auch meine Stimme", sagt er.
Doch die Rolle, die dieses "Ich" in seinen Büchern spielt, hat sich im Lauf seines Schriftstellerlebens geändert. Sein früher Roman "Double" (1998) war "total autobiografisch". Vor dem Hintergrund des Fichenskandals nutzte er seine Geheimdienstakten, um sein eigenes Leben, seine Zugehörigkeit zur autonomen Linken, zum Roman zu machen. "Ich habe mein eigenes Leben durch das Schlüsselloch der Polizei gelesen. Das war für mich ein Schock und ein guter Stoff." Er ist stolz darauf, dass "bisher kein anderer Autor den Fichenskandal aufgearbeitet" hat.
Seine neueren Romane stellen nicht mehr das Autobiografische ins Zentrum, de Roulet braucht autobiografische Elemente vielmehr als Rahmen. So erzählt er beispielsweise im letzten Kapitel von "Die rote Mütze", dass er über den eigenen Vorfahren, Jacques-André Lullin de Chateauvieux, den Besitzer des Söldnerregiments, zur Geschichte der acht Söldner gekommen ist.
Eigene literarische Stimme
Literarisch hat de Roulet zu einer ganz eigenen Stimme gefunden. Er erzählt die Geschichten einer ganzen Gemeinschaft, einer Gesellschaft, vielleicht der Schweiz. "Mich interessiert, woher die Gesellschaft kommt, in welche Richtung sie geht." Und die Literatur hat dabei eine Aufgabe: "den weniger vom Glück Begünstigten erteilt nur die Literatur das Wort", lässt de Roulet seine Söldnergeschichte enden; oder in "Staatsräson" (2021) schreibt er: "Alles in allem bleibt nur der Roman, um die Wahrheit zu hinterfragen".
Am heutigen Sonntag wird Daniel de Roulet 80 Jahre alt und wie eh und je findet er deutliche Worte: Es sei unbedingt nötig, der gängigen Geschichtsschreibung die Erzählung von unten entgegenzusetzen. "Überliessen wir das allein den Nationalisten, dann hätten wir Wilhelm Tell und Heidi. Solcher nationalistische Kitsch ist für mich Lüge." Seine Literatur sei "der Sand im Getriebe": "Würde ich das nicht machen, wäre es, als ob ich damit einverstanden wäre." © Keystone-SDA
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