Die Unruhe wegen des Zustands des Klimas ist in der Literatur angekommen. Zwei einander verwandte Bücher suchen persönliche Antworten auf den grundlegenden Konflikt zwischen Freiheit und Nachhaltigkeit. "Landkrank" und "Zugunruhe" berechtigen zu leiser Hoffnung.
Der Essay "Landkrank" von Nikolaj Schultz ist ein Buch der Stunde. Der junge Soziologe erfährt die Unruhe am eigenen Leib. Es ist Sommer in Paris. Die aufgestaute Hitze im Zimmer raubt ihm den nächtlichen Schlaf. Abhilfe könnte ein Ventilator schaffen, der aber treibt den "Energieverbrauch massiv in die Höhe". Es gibt keine billige Ausflucht aus dem Dilemma.
Spontan reist Schultz ans Meer, bloss um zu realisieren, dass viele es ihm gleich tun. Die naturgeschützte Insel Porquerolles vor der Côte d’Azur ist ein Hotspot für Ausflügler. Darunter leidet die lokale Ökologie. Wie viel Wohlstand bleibt uns, sorgt sich der Soziologe, wenn all unser Tun den Klimawandel verschärft.
Das hohe Gut der Freiheit
Das hohe Gut der Freiheit ist heute fundamental in Frage gestellt. Bei dieser Einsicht setzt der Däne Nikolaj Schultz in seinem Essay an, um eine neue Form von "geosozialem" Ausgleich ins Spiel zu bringen. Wir müssen uns ernsthaft fragen, wie wir die Welt gestalten, wenn wir als Gesellschaft eine Zukunft haben wollen.
"Landkrank" ist die griffige Formel für ein Unbehagen, dem der Schweizer Dichter Levin Westermann ein anderes Wort hinzugesellt: "Zugunruhe". So heisst der erste Roman von Westermann. Der Titel bezieht sich auf die Unruhe von Vögeln, die im Herbst vor ihrem Zug gen wärmere Gefilde nicht mehr schlafen können, als "spürten sie nachts, dass etwas sie in die Ferne zieht". Auch Westermanns Erzähler spürt sie, wenn er unterwegs ist, um zum Thema "Schauplatz Landschaft" zu recherchieren.
Eine verlassene Militärstellung demonstriert ihm, wie Landschaft immer auch als Territorium für Kriege dient. Umgekehrt überwuchert die Natur verblüffend schnell die Wunden menschlicher Eingriffe. Dabei von "Renaturierung" zu sprechen, wendet der Erzähler mit Nachdruck ein, sei indes "dreist und überheblich".
Die Natur benötigt den Menschen nicht. Westermann schlägt sich ganz auf ihre Seite. Darüber zu schreiben, will ihm aber nicht recht gelingen, zu sehr verliert er sich im Netz von eigenen Beobachtungen und angelesenem Wissen.
Die Landschaft hält nicht still, sie ist "nicht passiv", sondern entzieht sich immer wieder dem limitierten "sensorischen Erleben". Was bleibt, ist die Intensität, mit der sie dem Erzähler begegnet – wenn er, ganz bei sich, allein durch den Wald läuft, "frei von Menschen, Motoren und Müll".
Vor Unruhe krank
Sowohl "Landkrank" als auch "Zugunruhe" reflektieren eine kollektive Empfindung auf subjektive Weise und versuchen so Wege aus dem Dilemma zu zeigen. Während Schultz in heissen Nächten ins Grübeln gerät, reagiert Westermann zuallererst mit "einer glühend heissen Wut", deren Name "Scham" sei.
Im Kern finden beide Autoren zu ähnlichen Schlüssen. Westermann fordert eine Abkehr von der "Idee von immer mehr Geld und endlosem Wachstum", die uns in Richtung Abgrund schlittern lasse. Und Schultz plädiert dafür, genau zu unterscheiden "zwischen der Welt, in der ich lebe, und der Welt, von der ich lebe". Um sie in Einklang miteinander zu bringen, müssen ökonomische, soziale und ökologische Fragen zwingend zusammen gedacht werden.
Die Freiheit kann nicht mehr grenzenlos sein, denn eine solche Freiheit ist raumlos, betont Schultz. Sie ist nicht geerdet, ergänzt Westermann. Deshalb gibt es keine Flucht ins Entgrenzte, kritisieren beide mit Blick auf zynische Oligarchen, die davon träumen, den versauten Planeten Erde hinter sich zu lassen.
Intensive Naturerfahrung
"Ich muss meine Freiheit zusammen mit anderen in der Gesellschaft finden", heisst es in "Landkrank", um sie "in meiner subjektiven inneren Sphäre zu lokalisieren". Und der Erzähler in "Zugunruhe" sucht seine Freiheit in der intensiven Erfahrung der Landschaft.
In dem Sinn sind der erzählende Essay und der essayistische Roman einander geistesverwandt. Sie knüpfen das persönliche Erleben an die kollektive Erfahrung, und umgekehrt. Als Autor zielt Westermann dabei auch auf die Sprache. Er fordert eine "Grammatik des Belebten", um das Geheimnis der Welt mit Respekt für alle Kreaturen zu dokumentieren.
Schultz setzt an den Schluss seines Essays eine Pointe von Italo Calvino (1923-1985). Es gehe nicht darum, schrieb der bedeutende italienische Autor 1972, die Hölle zu verlassen, vielmehr müssten wir entdecken, "wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben". Genau diese Hoffnung bleibt.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA
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