Die Heimat ist ein Plural im Roman "Tabak und Schokolade". Der Basler Autor Martin R. Dean stellt darin die eigene Familiengeschichte in einen kolonialgeschichtlichen Kontext. Er ist mit dem Buch zu Recht für den Schweizer Buchpreis nominiert.
In der Verschwiegenheit "wächst sich das Unausgesprochene schnell zum Tabu aus" und verstellt den Blick auf die Vergangenheit. Martin R. Dean kennt diese Tabus. Er kam im aargauischen Wynental als "ein farbiges Kind in den weissen Laken einer Wöchnerin" zur Welt. Sein Vater stammte aus Trinidad, die Mutter war aus dem Dorf. Diese familiäre Konstellation hat ihn geprägt und seinen Blick geschärft für die Bruchstellen dessen, was gemeinhin Heimat heisst.
2003 in "Meine Väter" und nun in "Tabak und Schokolade" geht er der eigenen Biographie nach, indem er die Geschichte seiner Mutter ins Zentrum rückt. Mit 18 ist sie in London einem Mann aus Trinidad begegnet, dem Vater des Autors. Das Familienglück auf der Karibikinsel währte indes nur kurz. 1960 kehrten Mutter und Sohn in die Schweiz zurück. Bald folgte ihnen ein junger Arzt aus Trinidad, Martin R. Deans zweiter Vater.
Dreiteilige Recherche
In seinem Roman beschreibt Dean eine dreiteilige Recherche über die Mutter und die eigene Kindheit, über Herkunft und Heimat. Er spürt anhand von Fotos der verblichenen Erinnerung an Trinidad nach und findet bei einem Besuch auf der Karibikinsel ein weitverzweigtes Netz aus Verwandten. Im Wynental wiederum, wo er aufwuchs, ist er auch den italienischen "Gastarbeitern" begegnet, die in der Stumpenfabrik schufteten und scheel angesehen wurden.
Nach und nach entdeckt der Autor, dass die ganze Familiengeschichte von Migration durchpulst ist. Die gesellschaftlich längst etablierte Verwandtschaft in Trinidad entstammt Vorfahren, die einst aus Indien als Kontraktarbeiter auf den Plantagen eingewandert waren. Und seine geliebte Grossmutter Erna floh vor 100 Jahren wegen des dortigen Hungers von der norddeutschen Insel Rügen. Die Fremdheit in der neuen Heimat verbarg sie unter bürgerlichem Anstand.
Gegen das Vergessen
Martin R. Dean war schon immer ausgesprochen wachsam bezüglich Benachteiligung und Ausgrenzung, die er selbst erfahren hat. Diese Erfahrung stellt er persönlich und anschaulich in den kolonialen Kontext der Entfremdung, die über Generationen hinweg Wunden hinterlässt. Er verbindet das Bittere des Tabaks mit der Süsse der Schokolade – beides Genussmittel und Produkte der Ausbeutung.
Dass die Ausgrenzung bis heute nachwirkt, deutet er damit an, dass er nach dem Tod seiner Mutter bei der Aufteilung der Erbschaft aussen vor gelassen wurde. Wo "die Familie" vom juristischen Willensvollstrecker Haus und Inventar zugesprochen erhielt, blieb ihm ein kleines - wenn auch wertvolles, weil unvergängliches Überbleibsel: ein paar Fotos und die Erinnerung.
Er ringt seinen Verwandten all das ab, was sie in ihrer "Krankheit des Vergessens" preisgegeben haben, schreibt er. Indem er souverän essayistische Reflexion und Recherche mit literarischer Erzählung verbindet, gelingt ihm ein eindrückliches biographisches Porträt.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA
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