Leon Draisaitl ist zur Recht der Star der Nationalmannschaft - aber nicht der einzige Hoffnungsträger im Team von Toni Söderholm. Das deutsche Eishockey hat bei der WM jedenfalls so viel Offensivpower wie wohl noch nie auf dem Eis.
Ab sofort geht es natürlich nicht mehr ohne Superlative. "Unser
Es war der Siegtreffer in einem hart umkämpften Spiel, 27 Sekunden vor der Schlusssirene, das Tor zum Viertelfinale steht für die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft sperrangelweit offen. In Spielen wie diesen entscheidet sich nicht selten der Werdegang in einem Turnier. Keine zwei Minuten vor Schluss lag Deutschland noch 1:2 hinten, eine Niederlage hätte das Erreichen der K.o.-Phase in sehr weite Ferne gerückt.
Sportliche Nahtoderfahrungen haben Mannschaften schon oft genug beflügelt bis zum ganz grossen Triumph. So weit dürfte es die Auswahl des DEB bei der Weltmeisterschaft wohl eher nicht schaffen, die Titelkämpfe sind nicht nur ein einziges Stelldichein der Stars, sondern mit den üblichen Verdächtigen aus Russland, Kanada, Schweden oder Finnland immer noch mit deutlich besser besetzten Teams - und damit Titelkandidaten - bestückt. Aber jetzt blüht eben die Fantasie.
Draisaitl ist das Hirn
Leon Draisaitl ist der beste Spieler im Kader von Teamchef Toni Söderholm, das dürfte ausser Frage stehen. In der für ihn sehr früh beendeten Saison mit den Edmonton Oilers hat Draisaitl unglaubliche 105 Scorerpunkte eingefahren, so viele wie kein anderer deutscher Spieler zuvor in der NHL.
Selbst Oiler-Superstar Connor McDavid, den aktuell vermutlich besten Spieler der Welt, stellte der Deutsche in der Saison in den Schatten, die beiden anderen Superstars Sid Crosby (Pittsburgh Penguins, 100 Punkte) und Alex Ovechkin (Washington Capitals, 89 Punkte) konnten mit Draisaitl nicht mithalten.
In Nordamerika halten sich schon seit geraumer Zeit die Vergleiche mit dem anderen German Wunderkind, obwohl die natürlich nicht zulässig sind - aber eben so herrlich einfach: Draisaitl sei nichts anderes als der Dirk Nowitzki des Eishockeys.
Dabei spielt der 23-Jährige seine erste persönlich überaus erfolgreiche Saison in der besten Liga der Welt überhaupt und konnte zusammen mit McDavid das Verpassen der Playoffs auch nicht verhindern.
Günstiger Spielplan für DEB-Team
Bei der WM hatte Deutschland das Glück, von einem ziemlich günstigen Spielplan zu profitieren. Die Pflichtaufgaben gegen Aufsteiger Grossbritannien, Dänemark und Frankreich gipfelten im ersten Härtetest gegen Gastgeber Slowakei.
Söderholms Mannschaft bekam also die Gelegenheit, sich nach und nach an ihr Leistungsniveau zu tasten, ohne dabei wichtige Punkte zu gefährden. Das gilt auch für Draisaitl, der in den ersten Partien noch etwas verkrampft und nicht so locker wirkte wie in vielen Spielen in der NHL zuletzt - gegen die Slowakei dann nach einem für seine Verhältnisse bis dato eher durchwachsenen Spiel in der entscheidenden Sekunde aber voll da war.
So besonders viel sei ihm bis zu Gamewinner nicht gelungen, sagte Draisaitl selbst. Was auf der einen Seite stimmte, weil er ohne Scorerpunkt blieb. Auf der anderen Seite aber auch ein paar sehr wichtige Botschaften fast schon heimlich transportierte.
Denn auch ohne ihren Superstar auf dem Scoreboard hielt Deutschland mit den bärenstarken Slowaken und gegen fast 8.000 frenetische Fans in Kosice mit, die Tore zum zwischenzeitlichen 2:2 erzielten Marc Michaelis und Markus Eisenschmid. Einer 23, der andere 24 Jahre jung. Michaelis spielt in den USA am College, Eisenschmid ist mit den Adler Mannheim Deutscher Meister geworden, der schnellste Skater der DEL und eine der Entdeckungen der letzten Saison.
Der goldene 95er-Jahrgang
Zusammen mit den anderen Stürmern Draisaitl, Lean Bergmann, Stefan Loibl, Frederik Tiffels und Dominik Kahun und den Verteidigern Jonas Müller und dem vor wenigen Tagen erst 18 Jahre alt gewordenen Moritz Seider reift da eine hoffnungsvolle Generation heran, gerade der 95er-Jahrgang dürfte einer der besten in der Geschichte des deutschen Eishockeys sein.
Seider, dem als erstem 18-jährigen Verteidiger seit 41 Jahren bei einer WM zwei Tore gelangen, wurde zum "Rookie des Jahres" in der DEL gewählt und gilt als Top-20-Pick im NHL Entry Draft. Der 20-jährige Bergmann soll zum Sommercamp der NHL-Prospects eingeladen werden, die Winnipeg Jets sind offenbar stark interessiert.
Natürlich fokussiert sich alles auf Draisaitl, das eigene Team, die Gegner, die mediale Aufmerksamkeit. Aber darin liegt auch eine grosse Chance dieser Mannschaft. In den ersten Spielen war bereits gut zu erkennen, wie sich die Gegner sehr um Draisaitl kümmern, den Spieler hart attackieren, checken, provozieren.
In der Regel hat Draisiatl in Tornähe immer gleich zwei Gegenspieler an den Hacken, was unweigerlich in jedem Shift mehr Raum und Zeit schafft für die Mitspieler. Draisaitl macht jeden der vier Mitstreiter in seiner Reihe automatisch besser - und dass davon seit zwei Spielen seine Sandkasten- oder Jugendkumpels Tiffels und Kahun profitieren, tut der deutschen Offensive besonders gut.
Mit der Umstellung der Reihen hat Söderholm jedenfalls ein gutes Händchen bewiesen - ebenso wie vor einigen Tagen mit der Auswahl seiner Spieler.
Deutschland liegt im Trend
Es gab wie immer einige Härtefälle, Söderholm hatte aber stets die Gruppe im Blick und wie die Spieler untereinander funktionieren könnten. Auch hier war der Spielplan von Vorteil, um ein wenig zu experimentieren und nun für die anstehenden grossen Aufgaben auf Erfahrungswerte zurückgreifen zu können.
Gegen Kanada, die USA und Finnland spielt die DEB-Auswahl tatsächlich um den Gruppensieg, danach wartet im Viertelfinale in jedem Fall ein Grosskaliber: Von den unbezwingbar erscheinenden Russen über Angstgegner Schweden, Vizeweltmeister Schweiz bis zu den unberechenbaren Tschechen.
Wohin der Weg der deutschen Mannschaft bei diesen Titelkämpfen noch führt, ist ungewiss. Ganz sicher hat eine deutsche Mannschaft bei einem grossen Turnier aber wohl noch nie so viel Talent und Offensivpower auf dem Eis gehabt wie in diesen Tagen in der Slowakei.
Damit liegt Deutschland im Trend des Welthockeys: Auch andere Nationen haben ihre Teenager entsandt, die derzeit ihren Gegnern das Fürchten lehren - der Finne Kaapo Kakko oder der Amerikaner Jack Hughes etwa, beide erste 18 Jahre jung und beide im Verdacht, als Nummer-eins- und Nummer-zwei-Pack bei den Drafts gezogen zu werden.
Früher schauten die Verantwortlichen beim DEB verstohlen und auch etwas neidisch auf die anderen Nationen mit ihren Himmelsstürmern. Jetzt hat Deutschland selbst ein paar sehr junge, sehr interessante, sehr gute Spieler und eine durchaus verheissungsvolle Zukunft.
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