Seit dem Grossen Preis von Brasilien brennt der Baum bei Ferrari: Sebastian Vettel und Charles Leclerc tragen ihren Machtkampf offen auf der Strecke aus, während Lewis Hamilton an der Spitze thront und Max Verstappen sich zum ernsthaften Titelaspiranten mausert. Motorsportlegende Hans-Joachim Stuck über die Show der Scuderia, Titelkandidaten für 2020 und das Phänomen Lewis Hamilton.
Herr Stuck, am Sonntag kam es beim Grossen Preis von Brasilien zur direkten Kollision der beiden Ferrari-Kollegen,
Hans-Joachim Stuck: Sebastian Vettel hat hart gekämpft, allerdings ist das aus Ferrari-Sicht natürlich blöd, da beide rausgeflogen sind. Man darf auch nicht übersehen, dass die Aktion bei hohem Speed nicht ohne Risiko war. Da hätte Schlimmes passieren können.
Sie meinen die Aktion von Sebastian Vettel? Er ist vor der Kurve leicht nach innen in Richtung Leclerc gezogen.
Ich möchte mir keine Schuldzuweisung erlauben. Beide fuhren fast nebeneinander, das ist Kampfsport. Leclerc muss beweisen, wer er ist. Vettel hat dieses Jahr unheimlichen Druck. Wenn er nicht dagegen hält, heisst es 'Typisch, da gibt er wieder nach.'
Die Kollegen von der FIA haben auch keine Schuld ausgesprochen, weil sie es nicht genau sagen können. Es war eine harte Rennsituation.
Wenn sie zum Beispiel zwischen
Wie reagiert das Team denn jetzt? Was wird Teamchef Mattia Binotto den beiden sagen?
Ich bin froh, dass ich nicht dabei bin, wenn er den beiden die Leviten liest. Das ist keine einfache Aufgabe, Binotto muss auch auf das Jahr gesehen denken und versuchen, den Frieden reinzukriegen.
Diese Situation gab es ja schon öfter, auch Alain Prost und Ayrton Senna haben das bis zum Exzess geführt, als sie in Suzuka zusammengekracht sind (Anmerk. d. Red.: Der damals amtierende Weltmeister Prost provozierte im vorletzten Rennen der Saison einen Zusammenstoss mit seinem McLaren-Teamkollegen Senna, der das Rennen zwar trotzdem gewann, anschliessend aber disqualifiziert wurde. Prost verteidigte seinen Titel). Der am schwierigsten zu schlagende Rennfahrer ist der Teamkollege.
Experten haben eher Sebastian Vettel die Schuld gegeben …
Bei der Geschwindigkeit mit den Abständen … die fahren ja nicht ins Café Sacher zum Kaffee trinken. Sie fahren Grand-Prix-Rennen. Und wir wollen ja auch Kämpfe sehen.
Was bedeutet das Duell für den internen Machtkampf der beiden?
Man wird sehen. Wer der Schnellere ist im Qualifying, der ist die Nummer eins. Die Karten werden nächstes Jahr zum ersten Qualifying neu gemischt. Vettel und Leclerc dürfen dabei nicht vergessen: Sie fahren für Ferrari und bekommen viel Geld dafür.
Beide liegen also gleichauf?
Absolut. Sebastian steht ihm in keinem Prozent nach, aber Leclerc ist eben auch auf Augenhöhe mit Herrn Vettel. Sie haben ein Luxusproblem bei Ferrari.
Luxusprobleme hat auch Mercedes: Lewis Hamilton sicherte sich beim Grossen Preis der USA seinen sechsten WM-Titel, jetzt trauen ihm viele zu, Schumachers Rekord von sieben Titeln zu brechen. Sie auch?
Er ist noch jung, er kann auch acht- oder neunmal Weltmeister werden, solange er noch motiviert ist oder in einem guten Auto sitzt. Bemüht ist er auch. Irgendwann gab es einmal Gerüchte, dass er in die Formel E wechseln möchte, aber solange er in der Formel 1 mitfährt, ist er auch Favorit. An seiner Stelle würde ich es machen. Ich glaube, Hamilton ist es egal, ob er sieben, acht- oder neunmal Weltmeister ist.
Die junge Konkurrenz wird immer stärker, siehe
Für mich macht er einen fitten Eindruck, er ist super unterwegs. Er hat mit Bottas einen, der ihm Feuer unterm Hintern macht, das ist auch immer wichtig, dass er nicht einrostet. An ihm kann er sich messen. Da kann er sehen: Wo bin ich schneller? Wo bin ich langsamer als er? Wo kann ich noch etwas machen? Solange die Motivation stimmt bei einem Lewis Hamilton, kann er alles schaffen.
Was trauen Sie Sebastian Vettel für die neue Saison zu?
Ferrari war nicht immer top, hat aber hinten raus eine super Serie hingelegt mit Leclerc und mit Sebastian. Beide sind wieder da, mischen wieder mit. Nächstes Jahr geht es weiter. So wie Sebastian momentan fährt, muss er keinen im Feld fürchten. Keinen.
Wie steht es um die Titelchancen von Leclerc für nächstes Jahr?
Er ist fähig, Rennen zu gewinnen. Wenn das Auto passt, kann er auch eine WM gewinnen. Da zählt nicht nur der Fahrer allein, da zählt das Team. Wer macht im Winter die beste Entwicklung? Wer entdeckt eine Sache, in der er anderen Teams überlegen ist? Wer lässt sich etwas einfallen, dass er im ersten Rennen vorne steht? Wenn Ferrari es hinbekommt, dass Leclerc dauerhaft ein Frontrunner ist, haben die beiden ihren Spass.
Natürlich haben die Fahrer Verträge, in den steht, dass sie weisungsgebunden reagieren müssen, das mag keiner. Die Fans mögen auch keine Stallorder sehen. Wenn es am Ende des Jahres um die WM geht, ist das völlig legitim. Aber noch nicht am Anfang des Jahres. Dann müssen die beiden das miteinander ausmachen. Dann werden wir sehen, wo die Fetzen fliegen.
Lewis Hamilton, Sebastian Vettel, Charles Leclerc – wem trauen Sie noch den Titel zu 2020?
Man muss sicher Red Bull mit Max Verstappen auf dem Zettel haben. Sie arbeiten hervorragend und nutzen alle Möglichkeiten aus. Zwischen Ferrari, Mercedes und Red Bull geht die Post ab. Wenn noch ein anderes Team über den Winter aufschliessen kann, wäre es toll. Aber man muss davon ausgehen, dass die drei es unter sicher ausmachen. Für 2021 werden wir dann weiter sehen.
Kommende Saison ist die letzte Saison, bevor das neue Reglement in Kraft tritt. Geben Sie eine Prognose ab: Liegt die Dominanz also wieder bei Mercedes?
Wir hatten in diesem Jahr Phasen, in denen es langweilig war und in anderen wieder sehr spannend. Wir wollen hoffen, dass es so weiter geht. Die nächste Saison fängt nicht erst bei Q3 des ersten Rennens an.
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