Im Titelkampf geht es nicht nur um die fahrerischen Fähigkeiten, sondern auch um die mentale Stärke. Lando Norris hat früh gelernt, mit dem speziellen Druck der Formel 1 umzugehen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Lando Norris nutzte die freie Zeit zum Durchatmen. Schliesslich waren es gute vier Wochen ohne die Formel 1, ohne die ständigen Fragen nach dem Titelkampf, ohne den Druck, im Duell mit Max Verstappen abliefern zu müssen. "Ich hatte die Möglichkeit, nach dem Sieg von Singapur zu relaxen und Zeit mit Freunden zu verbringen", sagte Norris am Donnerstag auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des anstehenden Rennwochenendes in Austin.

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Die Zeit genoss der Brite, denn für ihn läuft es im Moment aus sportlicher Sicht nach Plan. "Wir haben einen guten Lauf, so soll es hier weitergehen", sagte Norris, der verriet, dass er nicht nur die Füsse hochgelegt, sondern sich auch auf die anstehenden Aufgaben vorbereitet hat. In Austin will der McLaren-Pilot seine Aufholjagd fortsetzen. "Vor einem Jahr hatte ich hier ein gutes Wochenende, also gehe ich davon aus, dass wir auch 2024 konkurrenzfähig sein werden – so wie auf fast jeder Strecke in diesem Jahr."

52 Punkte Rückstand hat Norris, bei noch sechs ausstehenden Rennen und drei Sprints. Und während es im Titelkampf auf das Auto, das Team, die Strecken und ein bisschen Glück ankommt, spielt auch der Kopf eine essenzielle Rolle. Das Mentale, das Nervenkostüm: Wer geht mit dem Druck, der im Laufe einer solchen Saison aufkommt, am besten um?

Glock: Verstappen hat den grösseren Druck

Für den Sky-Experten Timo Glock hat Verstappen "den grösseren Druck, weil er den Vorsprung verwalten muss", wie er im Gespräch mit unserer Redaktion erklärte. Für Verfolger Norris gilt laut Glock: "Er muss von Rennen zu Rennen denken, jedes Rennen gewinnen, und mehr kann er nicht machen. Allerdings erwarten alle, dass Verstappen den WM-Titel einfahren kann. Die Augen sind vor allem auf ihn und auf Red Bull gerichtet."

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Für Verstappen wäre es der vierte Titel in Folge, den Niederländer bringt trotz der Unruhe in dieser Saison rund um das Red-Bull-Team und die schwierige sportliche Situation mit einem schwächeren Auto so schnell nichts aus der Ruhe, und Flüchtigkeitsfehler sind bei ihm sowieso eine Seltenheit. Norris hingegen ist das erste Mal mitten im Titelkampf - obwohl er bereits seine sechste Saison in der Formel 1 absolviert. Er steht damit unter einem Druck, den er so vorher noch nicht kannte.

Immer wieder Flüchtigkeitsfehler

Das machte sich auf der Strecke auch immer wieder bemerkbar. Norris erlaubte sich jene leichten Patzer, die Verstappen zum Grossteil vermeiden kann. Vor allem bei den Starts zeigte Norris Nachlässigkeiten, verlor unmittelbar danach in unschöner Regelmässigkeit einige Plätze. Hinzu kamen Fahrfehler, die er sich auch in den Qualifyings leistete und damit bessere Startplätze verspielte.

Zuletzt aber hat er das Momentum auf seine Seite gezogen. Er kam in den letzten sechs Rennen fünfmal vor Verstappen ins Ziel, feierte dabei zwei Siege. Im Qualifying fuhr er im gleichen Zeitraum viermal auf die Pole Position. Den Rückstand knabbert er zwar nur vergleichsweise langsam ab, beweist aber auch Nervenstärke, weil er sich keine grösseren Fehltritte leistet, während Verstappen das Maximale aus dem schwächeren Auto herausholt und so den Druck hochhält.

Nicht so oft an den Titel denken

Was Norris hilft? Nicht so oft daran zu denken, was theoretisch möglich ist. "Je weniger ich darüber nachdenke, desto besser für mich", sagte er in diesem Monat in einem Interview mit "The Athletic" "Es ist schwer, wenn sich jede Frage im Grunde nur darum dreht. Für mich geht es nicht darum, irgendwie an das grosse Ganze zu denken", betonte Norris.

Norris ist es offenbar wichtiger, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Jemand, der erstmals in einem Titelkampf steckt, der vor allem die mentale Seite fordert, ist wahrscheinlich tatsächlich besser beraten, sich noch extremer zu fokussieren, keine WM-Stände zu lesen, keine "Was-wäre-wenn"-Analysen durchzuführen oder alle Eventualitäten durchzurechnen.

Seine Herangehensweise an ein Rennwochenende hat sich durch die neue Situation nicht geändert. "Mir geht es gut damit, einfach da rausgehen zu müssen und zu fahren", verriet der 24-Jährige vor ein paar Wochen beim Rennen in Monza, als er ein paar interessante Einblicke in seinen generellen Umgang mit Druck gewährte.

Norris musste sich schon früh in seiner Karriere mit Druck auseinandersetzen. Ein Umstand, der jetzt, wo er die Chance hat, den grössten Erfolg seiner Karriere einzufahren, extrem hilfreich ist.

Am Anfang hatte er damit "viele Probleme"

"Als ich in der Formel 1 angefangen habe, hatte ich damit viele Probleme. In meinem ersten, zweiten und dritten Jahr", erklärte Norris zum Thema Druck: "Weil ich damit so viele Probleme hatte, habe ich sehr gut gelernt, mit diesen umzugehen. Und das hat mir auch in der Position, in der ich mich gerade befinde, geholfen."

Dass Norris zum Grossteil abliefert, obwohl sich Verstappen noch keine grossen Ausrutscher geleistet hat, verdient viel Respekt. Denn sollte Norris ein "Nuller" unterlaufen, dürfte dieser eine extreme Auswirkung haben, könnte in dieser Phase gar entscheidend sein.

In der Hinsicht hat Norris in dieser Saison noch einmal einen Schritt nach vorne gemacht. "Ich fahre jetzt definitiv besser als jemals zuvor", sagte er. Man verbessere sich ständig in dem Bereich, erklärte er: "Aber man kommt an einen Punkt, an dem die mentale Seite und die Art und Weise, wie man an die Dinge herangeht, wichtiger sind als die Tatsache, dass man das Auto zwei Hundertstel schneller fährt."

Es liege daher an ihm, mit der für ihn neuen Situation so umzugehen, wie er es am besten könne, sagte Norris. Deshalb fühle sich die Situation auf der Zielgeraden der Saison auch so an, wie an jedem anderen Rennwochenende. "Ich denke überhaupt nicht an den Druck", sagte er. "Ich denke, der Druck ist immer da. Ich bin immer noch so nervös vor dem Qualifying, vor den Rennen bin ich immer noch genauso aufgeregt und nervös."

Die Folgen der Nervosität

Und diese Nervosität hat durchaus extreme Folgen. "Ich esse sonntags kaum etwas, es fällt mir schwer, sonntags etwas zu trinken, einfach weil ich nervös bin und wegen des Drucks", sagte er. Manche Fahrer werden durch Druck gehemmt, andere wachsen daran, können ihn in positive Energie umwandeln.

Wie Norris. Denn für ihn gehe es darum, wie man den Druck in etwas Positives umwandeln könne, wie man ihn auf eine gute Art und Weise nutzen könne, um sich auf die richtigen Dinge zu konzentrieren, so Norris. Das klappt bei ihm. "Und das werde ich wahrscheinlich für immer tun", meinte er.

Denn in der Formel 1 entscheiden Kleinigkeiten, Fehler können dementsprechend teuer sein, nicht nur im Rennen, sondern auch schon im Qualifying. "Wenn man in Q3 oder einer anderen Qualifikationsrunde rausgehen und abliefern muss, wird man jedes Mal nervös, weil der Druck so gross ist, und man weiss, wenn man nur eine Sache macht - einen Zentimeter oder einen Meter zu spät bremst oder zur falschen Zeit einlenkt oder was auch immer - dann ist es vorbei", sagte er: "Ich bin immer nervös und werde es wahrscheinlich immer sein." Deshalb hat er den vergangenen Monat genossen. Denn Zeit zum Durchatmen bleibt ihm im Titelkampf bei sechs Rennen und drei Sprints in sieben Wochen keine mehr.

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