Kleine Änderung - grosse Wirkung? Die auf den ersten Blick unscheinbare neue Abstossregel birgt ein hohes Potenzial gerade für spielstarke Mannschaften und könnte den Fussball nachhaltig verändern. Viele Teams gehen bisher aber verhalten mit der Regeländerung um - immerhin bringt sie nicht nur Vorteile mit sich.

Eine Analyse

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Es ist eine Revolution im Kleinen, an die sich die Fans seit einigen Wochen langsam gewöhnen können. Neun neue Regeln hat das FIFA-Board für die kommende Saison verabschiedet, von der Handspielregelung bis zum Schiedsrichter, der nun nicht mehr "Luft" ist.

Irgendwo dazwischen hat sich eine auf den ersten Blick recht unscheinbare Veränderung geschmuggelt, die bei genauer Betrachtung aber einen durchaus veritablen Einfluss auf das Spiel und seinen Fluss haben könnte.

Ball muss nach dem Abstoss Strafraum nicht mehr verlassen

Es geht um die Abstoss- beziehungsweise Freistossregel innerhalb des Strafraums. Bisher war es so, dass der Ball nach einem Zuspiel immer erst den Strafraum verlassen musste, eher er vom Passempfänger berührt werden durfte. Wurde das Zuspiel innerhalb des Strafraums berührt, hatte das die Wiederholung des Abstosses oder Freistosses zur Folge.

Nun besagt die Regel, dass der Passempfänger den Ball auch innerhalb des Strafraums annehmen darf. Gegenspieler dürfen in den Strafraum, sobald der Ball klar ersichtlich gespielt wurde. Das wird gerade in den ersten Spielen der neuen Saison zu eigenartigen Anordnungen auf dem Feld führen, wenn sich etwa plötzlich zwei Feldspieler direkt neben dem eigenen Torhüter postieren, um kurz angespielt zu werden.

Oder, wie jüngst zu beobachten: Der Torhüter lupft den Ball zum Feldspieler neben ihm, der köpft ihn in die Hände des Torhüters zurück, der dann bis zur Strafraumgrenze laufen kann, um den Ball aus der Hand über den aufgerückten Gegner abzuschlagen.

Dieser Variante haben die Regelhüter der FIFA jedoch schnell einen Riegel vorgeschoben. Das International Football Association Board (IFAB) präzisierte Regel 16 dahingehend, dass eine Zuwiderhandlung der abstossenden Mannschaft zwar keine Sanktionen nach sich zieht, der Schiedsrichter aber eine Wiederholung des Abstosses anzuordnen hat.

Vorteil für spielstarke Teams

Was trotzdem erhalten bleibt, ist eine neue Freiheit, die einen enormen Einfluss auf das Spiel der Mannschaft in Ballbesitz haben kann.

Aus einer Standardsituation wird ein spielerischer Moment, was gerade spielstarken Mannschaften mit Fokus auf gepflegtes Positionsspiel mehr Chancen als Nachteile bringen dürfte. Der oder die Innenverteidiger etwa sind direkt anspielbar und können den Spielaufbau beginnen. Das Spiel kann also von der ersten Ballberührung an flüssiger werden.

Das bestätigt auch Trainerlegende Ottmar Hitzfeld im Gespräch mit unserer Redaktion: "Diese Regel macht das Spiel schneller. Vorher haben die Stürmer den Raum zugestellt, wenn der Torwart herausspielen wollte. Dann musste der Torwart erst wieder zurücklaufen und Anlauf nehmen für den Abstoss. Derweil ist seine Mannschaft aufgerückt. Man hat dabei viel Zeit verloren. Von daher beschleunigt die neue Regel das Spiel. Die spielerisch stärkere Mannschaft hat Vorteile."

Vor allem aber werden die statischen Deckungsmanöver aufgebrochen, in denen der Gegner einfach Mann gegen Mann zustellt und die Ballbesitzmannschaft damit zu einem langen Ball ins Mittelfeld zwingt, um dort dann das Gefecht um den zweiten Ball zu eröffnen.

Nun ist nach dem Abstoss theoretisch mehr Fussball möglich. Mit geeigneten Strategien wie der oben genannten zum Beispiel, mit denen der Gegner ins Pressing herangelockt wird, um dann ausgespielt zu werden.

Es entsteht mehr Tiefe im Feld und auch eine Art Kettenreaktion: Rückt der Gegner mit seiner ersten Pressinglinie weiter nach vorne, muss die Mittelfeldreihe und damit letztlich auch die Abwehrkette nachschieben, um keine Lücken entstehen zu lassen.

Gleichzeitig muss sie für einen langen Ball hinter die Kette gewappnet sein - denn dort ist nun deutlich mehr Raum. Bei einem Gegner, der sich bis an die Mittellinie und damit an die natürliche Abseitslinie traut, bleibt eine ganze Spielfeldhälfte offener Raum zum Bespielen.

Neue Regel bietet auch Chance für das verteidigende Team

Umgekehrt bieten sich auch im Spiel gegen den Ball ganz neue Möglichkeiten. Man kann aggressiver zu Werke gehen und den Ball im Idealfall schon in Tornähe erobern. Mit entsprechendem Anlaufverhalten zwingt man den Gegner zu unkontrollierten Pässen. Gute Pressingmannschaften dürften in Zukunft noch einen Tick aggressiver agieren.

Florian Kohfeldt, der als Trainer von Werder Bremen mit einer eher spielstarken Mannschaft arbeitet und davon profitieren könnte, bleibt im Gespräch mit unserer Redaktion aber noch zurückhaltend. "Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, sehen aber derzeit keinen grossen Mehrwert für uns. Wir wollen im Ballbesitz nichts an unserer Grundpositionierung ändern. Aber: Hat der Gegner den Ball, dann werden wir etwas ändern im Anlaufen. Was genau, werde ich aber noch nicht verraten."

Um von der neuen Freiheit gerade im eigenen Ballbesitz zu profitieren, ist ein gesundes Mass an Überzeugung und Risikobereitschaft ebenso erforderlich wie die technischen Voraussetzungen der Spieler und einstudierte Abläufe. Es dürfte gerade am Anfang jede Menge schnelle Ballverluste geben, die dann auch vermehrt auch zu Gegentoren führen können.

Aber: Je früher eine Mannschaft damit anfängt, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen und Lösungen zu entwickeln, umso mehr könnte sie auf lange Sicht davon profitieren.

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