Die Gewalt und Diskriminierung bleiben auf deutschen Fussballplätzen weiter ein grosses Problem. Deshalb führt der DFB jetzt das "Stopp-Konzept" ein. Wir haben mit der Kriminologin Dr. Thaya Vester über die generelle Lage und das Pilotprojekt gesprochen.
Die nackten Zahlen wirken erst einmal nicht so bedrohlich. Denn in der Saison 2022/23 gab es bei mehr als 99 Prozent aller Begegnungen im deutschen Amateurfussball keine Meldung über Gewalt oder Diskriminierung. Konkret waren es 0,5 Prozent aller absolvierten Partien, bei denen es zu Vorfällen kam. Einzelfälle also? Nein, denn in absoluten Zahlen waren es ganze 6.244 Spiele, eine ganze Menge also. 961 Partien mussten sogar abgebrochen werden. Und spätestens dann, wenn man Aufnahmen der Vorfälle gesehen oder Berichte mit Einzelheiten darüber gelesen hat, ist sowieso klar: Jeder Vorfall ist einer zu viel.
Das grosse Problem: Seit einigen Jahren ist ein stetiger Anstieg der Vorkommnisse zu verzeichnen, in der aktuellen Saison, die offiziell noch bis zum 30. Juni läuft, zeichnet sich keine Entspannung ab. Das noch grössere Problem: Wirksame Werkzeuge, um den Negativtrend zu stoppen, haben der Deutsche Fussball-Bund (DFB) und die Landesverbände lange nicht gefunden. Die aktuelle Hoffnung: Ein Pilotprojekt, das am 1. Juli 2024 bundesweit startet, das sogenannte "DFB-Stopp-Konzept", ein Baustein der Strategie Deeskalation im Fussball.
So funktioniert das Konzept
"Der Bedarf dafür ist ohne Frage vorhanden und rückblickend muss man sich auch fragen, warum man nicht vorher darauf gekommen ist, weil es sehr naheliegend ist. Aber was besonders schön ist: Dass es sowohl von oben als auch von unten gewünscht wurde", sagt die Kriminologin Dr. Thaya Vester im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie beschäftigt sich seit Jahren in Zusammenarbeit mit dem DFB unter anderem mit dem Thema Gewalt und Diskriminierung im Amateurfussball.
Entwicklungen abseits der Fallzahlen unterstreichen, "dass einiges im Argen liegt. Zu Beginn der letzten Saison hat ein Fussballkreis früh in der Saison den Spielbetrieb ausgesetzt. Und im März hat ein ganzer Landesverband gesagt: 'Bis hierhin und nicht weiter'", sagt Vester. Deshalb sei klar gewesen, dass man den Fokus noch mehr auf die Prävention legen und möglichst dann eingreifen müsse, wenn das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen sei.
Im Rahmen des Stopp-Konzeptes können Schiedsrichter deshalb bei Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen Beruhigungspausen anzeigen, um die Gemüter wieder zu beruhigen. Nach einem Pfiff deutet der Referee mit einer bestimmten Geste an, dass sich die Mannschaften in ihren jeweiligen Strafraum begeben müssen. Pro Spiel sind maximal zwei Beruhigungspausen vorgesehen. Bei einer dritten Pause wird das Spiel endgültig abgebrochen. Bei schwerwiegenden Zwischenfällen kann natürlich weiterhin sofort ein Abbruch erfolgen.
Wie gross der Bedarf tatsächlich ist, zeigte sich neben den Zahlen und den Protesten von Kreisen oder ganzen Landesverbänden durch weitere Faktoren. So wollten beim Start der Testphase 2022/23 in zwei Kreisen in Württemberg umgehend umliegende Kreise mitmachen. Und als in der Saison 2023/24 die Testphase auf ganz Württemberg ausgerollt wurde, waren umgehend einige andere Landesverbände zur Stelle, um sich zu informieren und sich untereinander zu vernetzen. Den Beteiligten und Verantwortlichen konnte es mit der Umsetzung gar nicht schnell genug gehen.
Der DFB überrascht mit Schnelligkeit
"Und was wirklich ein Novum ist: Die Geschwindigkeit, mit der das Ganze jetzt bundesweit eingeführt wurde", sagt Vester. "Der DFB ist nicht unbedingt für sehr schnelle Entscheidungen bekannt, insbesondere, was den Amateurbereich betrifft, weil es durch den föderalen Aufbau per se schon schwerfällig zugeht."
Doch beim oft so unbeweglichen Verband weiss man, dass man bei dem Thema Gewalt auf den Fussballplätzen keine Zeit mehr verlieren darf. Denn in den vergangenen Jahren schrieben einige besonders heftige Zwischenfälle bundesweit Negativ-Schlagzeilen, heizten die Diskussionen immer wieder an. Und auch international wird durch das International Football Association Board (IFAB) gehandelt. Diese Einrichtung, die für die Ausgestaltung des Fussball-Regelwerks zuständig ist, widmet sich gerade intensiv dem Thema Spielverhalten.
Neben dem DFB-Stopp-Konzept werden daher weitere Tests für neue Ansätze gestaltet, die den zwischenmenschlichen Umgang auf den Plätzen verbessern sollen. So präsentierte das IFAB im Frühjahr die Idee einer sogenannten "Captains Only"-Zone, um die Person des Schiedsrichters besser schützen zu können. Eine leicht abgewandelte Form kommt dabei nun erstmalig bei der kommenden EM zum Einsatz. Die Uefa kündigte an, dass in strittigen Situationen nur noch die Kapitäne mit dem Schiedsrichter sprechen sollen, damit es auf den Plätzen gesitteter zugeht. "Es ist tatsächlich sehr viel in Bewegung gekommen, und zwar in einem Ausmass, das ich, seitdem ich mich mit der Thematik befasse, so noch nicht gesehen habe", sagt Vester.
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Rückgang der Fallzahlen
Ob sich die in das "DFB-Stopp-Konzept" gesetzten Hoffnungen erfüllen, muss sich aber erst noch zeigen. Bei der Testphase verzeichnete Württemberg einen Rückgang der Fallzahlen, wobei die Statistiken dazu mit Vorsicht zu geniessen sind, wie Vester betont. "Gesamtgesellschaftlich sehen wir, dass die Gewalttaten steigen. Parallel dazu weiss man beim Fussball aber nicht, wie es sich ohne die Massnahmen entwickelt hätte", sagt sie. Präventionsparadoxon nennt man das. Theoretisch könnte also die Massnahme auch ein Erfolg sein, selbst wenn sich ein Anstieg der Fallzahlen zeigen würde.
Umso wichtiger ist es deshalb, die Basis zu fragen, die Schiedsrichter selbst, wie sie auf das neue Tool reagieren. Und da gibt es kaum zwei Meinungen. "Die Rückmeldungen sind sehr, sehr positiv. Es gibt vonseiten der Schiedsrichter eine sehr breite Zustimmung", so Vester, die betont: "Es ist bereits ein grosser Erfolg, wenn die Referees selbstsicherer sind und anders auftreten, weil sie so ein Werkzeug haben."
Profis müssen Vorbilder sein
Für einen langfristigen Erfolg reicht es aber nicht, den Schiedsrichtern das Werkzeug zu überlassen und sie damit mehr oder weniger alleine zu lassen. "Es ist wichtig, dass es ordentlich kommuniziert und erklärt wird, damit es überall ankommt und dann auch anständig umgesetzt wird", sagt Vester. Ein bisschen "Learning by Doing" gehört dazu, um zum Beispiel einen Missbrauch, indem der Spielfluss durch ein absichtliches Auslösen des Stopps unterbrochen wird, auszuschliessen. Oder im Blick zu behalten, ob Gewalt damit tatsächlich verhindert oder nur räumlich und zeitlich verschoben wird.
Doch klar ist: Wie so oft zählt auch in diesem Fall die Vorbildfunktion der Profis. Die EM ist in der Hinsicht ein erster Härtetest, indem die Nationalmannschaften die erwähnte Regel und damit den Schiedsrichter respektieren. "Falls tatsächlich nur noch die Kapitäne mit dem Schiedsrichter sprechen, dann wird das nochmal eine ganz andere Diskussion freisetzen. Dann herrscht womöglich ein ganz anderes Mindset und es wird nicht mehr als normal angesehen, dass man lautstark und respektlos gegen eine Entscheidung protestiert", sagt Vester.
Auch wenn es nicht ganz so einfach sein wird, über Jahre erlernte Muster von jetzt auf gleich abzulegen. Doch ein so wichtiger Anfang wäre gemacht. Und die Expertin sagt ganz klar: "Wir haben sehr viele Indikatoren, die dafür sprechen, dass das Stopp-Projekt eine sehr gute Sache ist." Was die Chancen auf einen nachhaltigen Erfolg erhöht. Damit die Anzahl der Fälle endlich abnimmt. Denn jeder einzelne ist einer zu viel.
Über die Gesprächspartnerin:
- Dr. Thaya Vester ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Ausserdem ist sie Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" sowie der DFB-Expert*innengruppe "Fair Play – gegen Gewalt und Diskriminierung".
Verwendete Quellen:
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