Serhou Guirassy galt für den VfB Stuttgart als unverzichtbare Grösse. Nun machen sich sein kongenialer Partner und sein Nachfolger auf, den Torjäger vergessen zu lassen. Sehr zum Leidwesen des BVB und dessen zarter Aufbruchstimmung.
Forscher haben den Lärmpegel einer Boeing 737 einmal bei rund 110 Dezibel eingestuft, die oberste Schmerzgrenze für das menschliche Ohr liegt bei 120 Dezibel. Ist man einem Lärmteppich dieser Kategorie länger ausgesetzt, kann dies zu irreparablen Schäden führen. Und der Dauerkrach schlägt ja auch gehörig aufs Gemüt.
Am Sonntagabend wurden im Stuttgarter Stadion bei einem an sich handelsüblichen Bundesligaspiel bis zu 113 Dezibel gemessen, und zwar immer dann, wenn der Dortmunder Spieler mit der Rückennummer 3 am Ball war. Deutlich über 50.000 Stuttgarter Fans waren - vorsichtig formuliert - nicht besonders gut zu sprechen auf
Diesen an sich normalen Vorgang des Profigeschäfts nehmen sie ihm krumm im Ländle, hatte Anton doch nur ein paar Tage vor seinem Transfer zum BVB noch seine Treue bekundet – und sich in den letzten Wochen beim einen oder anderen öffentlichen Auftritt auch zumindest etwas ungelenk dazu geäussert.
Also war klar, was bei Antons Rückkehr in den Stuttgarter Kessel passieren würde: Die Stuttgarter Fans und - sehr zum Leidwesen der Dortmunder auch die gegnerische Mannschaft - bereiteten dem ehemaligen Spieler den perfekten Sturm. Von der ersten Sekunde an, bereits beim Aufwärmen, brach eine Lawine über Anton und den BVB herein und riss alles und jeden mit.
Guirassy die Show gestohlen
Mit 5:1 zog der VfB eine nicht konkurrenzfähige Borussia vom Platz, es hätten mit ein wenig mehr Stuttgarter Konsequenz auch sieben oder acht Gegentore sein können. Schon nach einer halben Stunde hätte sich der BVB nicht über einen 0:5-Rückstand beschweren können, so fulminant war der Zwei-Klassen-Unterschied bis zu diesem Zeitpunkt.
Im Getöse um das Anton-Comeback nach Stuttgart war fast ein wenig übersehen worden, dass ja auch Serhou Guirassy an den Ort seiner Durchbruch-Saison zurückkehren würde. Ein Spieler, der den VfB mit 30 Toren in 30 Pflichtspielen ins Rampenlicht, zur Vizemeisterschaft und damit in die Champions League geschossen hatte. Der mit Undav zusammen das beste Sturm-Duo in der langen Stuttgarter Klubgeschichte gebildet hatte und eigentlich als unverzichtbar galt.
Stuttgarter Sturm-Duo dreht auf
Tatsächlich war Guirassys Abgang auch ein sehr schmerzvoller, für die Schwaben, in seinem Phänotyp aber doch ganz anders als der von Anton: Weil früh klar war, dass Guirassy eine andere Aufgabe übernehmen wollte, weil er nicht öffentlich mit einem Verbleib kokettiert und schon gar kein Treuegelübde abgelegt hatte.
Auch deshalb liessen die Stuttgarter Fans ihren einstigen Liebling nahezu komplett in Ruhe, gab es kaum vernehmbare Pfiffe und selbst bei Guirassys Treffer zum zwischenzeitlichen 1:3 so gut wie keine besondere Gefühlsregung auf den Tribünen. Was angesichts der rund 75 Minuten davor und - wie man jetzt weiss - auch den verbleibenden bis zum Abpfiff auch verstehen konnte.
Denn die besseren, die unverzichtbaren Angreifer stellte an diesem Abend nicht Dortmund, sondern der VfB Stuttgart. Undav und Demirovic vollendeten eine zwar nicht perfekte, aber doch sehr bemerkenswerte Woche. Der eine nimmt sich als Freigeist auch ohne seinen kongenialen Partner Guirassy immer noch jede Kreativität. Kein anderer Spieler schiesst häufiger aufs gegnerische Tor als Undav, der jetzt nach dem gelungenen Einstand als Startspieler bei der Nationalmannschaft in den Spielen gegen Mönchengladbach, Real Madrid und Dortmund viermal getroffen hat.
Der andere sieht sich dagegen als eiskalter Vollstrecker, dessen Quote früh in dieser Saison deutlich über allen Konkurrenten schwebt. Demirovic mag in den Stuttgarter Spielfluss noch immer nicht perfekt eingebunden und auch ein ganz anderer Spielertyp als sein Vorgänger Guirassy sein - seine Zahlen sind indes aber schon beängstigend gut. Für vier Saisontore hat Demirovic ganze sechs Torschüsse benötigt. Da können selbst Grosskaliber wie Harry Kane (5 Tore, 17 Torschüsse), Victor Boniface (3/20) oder Loïs Openda (2/11) nicht mithalten.
BVB: Noch nicht mehr als Ansätze
Undav, Demirovic und die bärenstarken Jamie Leweling und Enzo Millot strahlten auch deshalb so hell, weil der VfB seinem Gegner nun schon zum vierten Mal innerhalb eines Jahres Anschauungsunterricht gab und einen Fussball spielte, wie ihn der BVB gerne für sich reklamieren würde. Davon sind die Borussia und ihr neuer Trainer
Zwar sind die Ideen und Ansätze andere als bei Sahins Vorgänger Edin Terzic, der viel auf die individuelle Kraft seiner Einzelspieler setzte, auf Helden- und Kraftfussball. Aber sie sind bisher eben auch nur das: Ansätze, die in einem Gesamtkonstrukt noch nicht wie erwünscht zum Tragen kommen.
Und wenn dann die alte Dortmunder Krankheit von der fragwürdigen Haltung zu einem Spiel und individuelle technische Fehler dazu kommen plus ein Gegner, der fast 90 Minuten das Gaspedal durchdrückt, dann kann so ein 1:5 gar nicht mehr gross überraschen. Zu oft ist es bei einer Dortmunder Mannschaft in den letzten Jahren schon zur Kernschmelze gekommen, war die erwartbare Konstanz nichts weiter als eine Worthülse.
Sahin: "So ein Gesicht will ich nie wieder sehen"
"Wir müssen jetzt völlig zurecht durch die Hölle und werden in den nächsten Tagen sehr viel abbekommen", sagte Aushilfskapitän Julian Brandt nach dem Spiel. Eine "Nicht-Leistung" hatte sein Trainer gesehen und das mitten hinein in die zarte Dortmunder Aufbruchstimmung. "Das kann ich nicht akzeptieren. So ein Gesicht will ich nie wieder sehen!"
Auch Anton stellte sich trotz des fürchterlichen Abends für seine Mannschaft und ihn persönlich nach dem Spiel, was man dem 28-Jährigen durchaus hoch anrechnen darf. "Die Basis" hätte gefehlt, sagte Anton. Gemeint waren Attribute wie Leidenschaft, Kampfbereitschaft, Willensstärke, Passschärfe. Das Grundlagenpaket einer jeden Mannschaft, ob in der Bundesliga oder in der Kreisklasse.
Soweit scheint seine neue Mannschaft noch nicht zu sein, dies verlässlich und auch zum Ende einer englischen Woche hin abrufen zu können. Daran wird sich Anton vielleicht noch gewöhnen müssen.
Verwendete Quellen
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