Der BVB taumelt von einer Peinlichkeit in die nächste, die Saison könnte schon in wenigen Tagen praktisch vorbei sein. Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass die vermeintliche Nummer zwei des Landes in die Bedeutungslosigkeit abrutscht?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am Sonntagvormittag wurden die Profis von Borussia Dortmund zum Rapport bestellt. Trainer Niko Kovac, Sportchef Sebastian Kehl und Geschäftsführer Lars Ricken dürften den Spielern die Leviten gelesen haben, so ist jedenfalls zu vermuten nach dem nächsten Tiefpunkt einer an Tiefpunkten nicht armen Saison.

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Die beschämend schlechte Vorstellung der Mannschaft beim 0:1 zu Hause gegen den FC Augsburg erforderte zum wiederholten Mal in den vergangenen Monaten besondere Massnahmen, erneut findet sich der Klub im angespannten Krisenmodus wieder.

Der BVB ist gefangen in der Dauerschleife aus grossen Enttäuschungen und kurzen Lichtblicken, die vermeintlich Besserung in Aussicht stellen - nur um dann abermals im nächsten sportlichen Tiefschlag zu enden. Und allmählich sollte auch den kühnsten Optimisten und Träumern dämmern, dass die Borussia im Frühjahr 2025 in einer Sackgasse steckt und in der grössten sportlichen Krise seit knapp zwei Jahrzehnten.

Das Desaster kommt keinesfalls aus dem Nichts, sondern kumuliert aktuell in einem sukzessiven Abwärtstrend in den letzten Jahren. Aber wie konnte aus der angeblich zementierten Nummer zwei hinter dem FC Bayern ein Klub im tristen deutschen Mittelmass werden? Und wer trägt Schuld an der Misere? Der BVB hat fünf grosse Fehler begangen.

1. Dem BVB fehlt eine Vision

Wofür steht Borussia Dortmund? Auf diese einfache Frage finden die Verantwortlichen seit dem Weggang von Jürgen Klopp kaum noch eine adäquate Antwort. Der BVB mäandert in unregelmässigen Abständen, verschleisst Trainer um Trainer, verfolgt weder im Scoutingbereich noch bei der Kaderzusammenstellung einen roten Faden. Die Zeiten, in denen die Borussia "wenigstens" noch als ambitionierter - aber ungern nach aussen kommunizierter - Ausbildungsklub für die besten jungen Talente des Kontinents galt, sind mittlerweile auch vorbei.

Die Idee, mit eher gestandenen Profis im Herbst ihrer Karriere zumindest den Status quo zu verwalten und gelegentlich noch auf einen Treffer am Transfermarkt im jüngeren Segment zu hoffen, ist brachial gescheitert.

Vermutlich auch deshalb, weil hinter den schönen Marketingbotschaften im sportlichen Bereich ein klar definiertes Konzept fehlt. Stattdessen hängt der Klub gefühlt immer noch der Vergangenheit nach, trauert knapp zehn Jahre nach dem Ende der Klopp-Ära dem einstigen Messias nach - und vergisst überdies, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und frische Ideen und Inhalte zu entwickeln.

Dieses rückwärtsgewandte Denken wird schon seit Jahren abgestraft, in dieser Saison aber so heftig und schonungslos wie selten zuvor.

2. Die Verweigerung der Realität als Dauerzustand

Wie oft genau im Dunstkreis von Borussia Dortmund in den vergangenen Jahren von einer "grundlegenden" oder sogar "schonungslosen" Analyse der sportlichen Bilanz zu hören war, lässt sich kaum zählen. Unterschiedliche Protagonisten - von den Spielern über ihre Trainer bis zum Sportdirektor, Geschäftsführer, dem einen oder anderen Einflüsterer oder sogar zum grosse Patriarch Hans-Joachim Watzke - mussten im Prinzip immer dieselben Dinge erzählen.

Wobei: Der eine oder andere vermochte den steten Abstieg seines Klubs so bis zuletzt immer noch nicht wahrhaben. Es ist gerade ein paar Wochen her, als Watzke auf der "SpoBis" über die Zeit im Herbst und Winter sagte, man habe "ein bisschen ein Krisenszenario entwickelt". Gemeint war damit aber nicht eine Zwischenbilanz aus dem Inneren des Klubs, sondern die vermeintlich falsch formulierte Einschätzung der Medien.

"Ich bin immer ein grosser Fan davon, dass wir nicht Anfang Februar Bilanz ziehen, sondern Ende Mai - hilft immer", erklärte Watzke. "Letztes Jahr waren wir Ende Januar auch Sechster und alle haben geschrieben: Um Gottes Willen! Ich lasse mir auch von dem einen oder anderen Journalisten nicht einreden, dass wir seit Jahren komplett unerfolgreich durch Europa surfen. Das ist natürlich der grösste Blödsinn."

Der Einzug ins Finale der Champions League in der vergangenen Saison gibt dem BVB-Boss in der Sache Recht, Meister wäre der BVB vor knapp zwei Jahren schliesslich auch beinahe geworden und 2021 konnte man sich immerhin zum Pokalsieger küren. Damit endet die Erfolgsgeschichte von Borussia Dortmund aber auch schon wieder,

Tatsächlich zeigt die sportliche Entwicklung in den vergangenen Jahren kontinuierlich bergab, die punktuellen Erfolge haben lediglich einen Schleier über das gelegt, was jetzt immer deutlicher sichtbar wird. Zu mehr als einer "optimierungsbedürftigen Situation" hat sich Watzke in seinem Urteil nicht hinreissen lassen, dabei spielt der BVB die schlechteste Saison seit einer gefühlten Ewigkeit.

Und weil sich auch weder Kehl noch Ricken bisher - zumindest öffentlich - zu einer "schonungslosen Analyse", die diesen Namen auch verdient hätte, haben inspirieren lassen, droht die Saison nun Anfang März schon völlig auszutrudeln.

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3. Falsche Entscheidungen auf allen Ebenen

Im Januar stärkte Watzke dem damaligen Trainer noch gewohnt markig den Rücken, Nuri Sahin werde "in den nächsten Jahren sehr viele Erfolge mit dem BVB feiern". Wenige Tage danach war Sahin Geschichte, der achte Trainer in knapp zehn Jahren am Ende.

Diese immense Fluktuation auf der wichtigsten Position eines Fussball-Klubs ist das nach aussen sichtbarste Zeichen für Inkonstanz und womöglich fehlender Expertise der handelnden und weisungsbefugten Personen. Dabei hat der BVB im Grunde alle Typen von Trainern mindestens einmal durchprobiert - mit zum Teil sehr überschaubaren Erfolgen.

Das ist zum einen eine besonders kostspielige Strategie, vorzeitig dem Amt entbundene Trainer wollen schliesslich weiterbezahlt werden. Und zum anderen die nächste Offenbarung, wirft sie doch ein sehr schlechtes Licht auf jene, die als Konstanten im Hintergrund unabhängig vom jeweiligen Trainer werkeln. Und ganz offensichtlich munter weiter fragwürdige Entscheidungen treffen dürfen.

Das fängt bei der Zusammenstellung der sportlichen Leitung an mit Kehl und Ricken als dessen übergeordneter Instanz, mit Matthias Sammer als externem Berater und dem mittlerweile auch schon wieder freigestellten Sven Mislintat als Kaderplaner. Und es hört auf bei der Zusammenstellung des Kaders und der Wahl des Trainerteams.

Der Plan, mit einem deutlich kleineren Kader in eine Saison mit potenziell höherer Belastung (durch die Champion-League-Reform) und einem Grossturnier an deren Ende (der Klub-WM) zu gehen, ist geradezu spektakulär gescheitert. Die Lücken im Kader bleiben auf einigen Positionen auch nach mehreren Transferphasen weiter sichtbar, die Mischung aus Alt und Jung, aus hungrig und zu satt stimmt hinten und vorne nicht.

4. Niko Kovac und die Prioritäten

Mit Niko Kovac als Sahin-Nachfolger haben die Verantwortlichen den Weg des (vermeintlich) geringsten Widerstands gewählt: einen Trainer, der einfache Lösung zu bieten scheint, an die Ehre, die Kampfeslust, die Moral und Widerstandsfähigkeit seiner Spieler appelliert und diese Tugenden propagiert.

Handwerklich hat sich seit Kovac‘ Übernahme vor wenigen Wochen kaum etwas verändert. Zwar wurde die Spielausrichtung etwas angepasst und der Fokus auf eine deutlich stabilere Defensive gelegt. In dem Segment, das die Chance auf Siege am deutlichsten erhöhen würde, ist bisher aber so gut wie gar nichts passiert: Dortmunds Offensive hat bisher in drei Halbzeiten funktioniert, gegen den FC Union beim 6:0 und gegen Sporting, als die Borussia einen allerdings auch erheblich ersatzgeschwächten Gegner in den zweiten 45 Minuten dominierte. Aber selbst in diesen Spielen lebte die Mannschaft vom Rezept "Flanke, Abschluss, Tor".

Wie einer besseren auf- und eingestellten Mannschaft, die entweder tief verteidigt oder die Borussia früh und energisch anläuft, zu begegnen wäre? Das ist immer noch nicht ersichtlich. Die Dortmunder Probleme im Spielaufbau und im letzten Drittel, besonders durchs Zentrum und die Halbspuren, sind mehr als offensichtlich.

Kovac beharrt(e) bisher darauf, "seinen" Stil durchdrücken zu wollen mit einer überschaubaren Anzahl an Stammkräften. Seine erstmals geäusserte harsche Kritik an seiner Mannschaft nach dem Augsburg-Spiel lässt nun wenigstens ein wenig den Gedanken zu, dass Kovac sich zu anderen Massnahmen wird durchringen können.

"Schlecht": Kovac nach Augsburg-Pleite angefressen

Nach der enttäuschenden Pleite gegen den FC Augsburg wirkt Borussia Dortmunds Trainer Niko Kovac mitgenommen. Der Kroate hadert mit der Leistung seiner Mannschaft, für das Rückspiel in der Champions League in Lille nimmt Kovac dennoch etwas Positives mit.

Einen Trainereffekt hat es bisher jedenfalls nicht gegeben, ganz zu schweigen von einer Art Aufbruchstimmung. Und ob Kovac seinen Vertrag über anderthalb Jahre beim Verpassen der Königsklasse und vielleicht sogar der Trostpreise Europa League oder Conference League überhaupt wird erfüllen können, ist eher nicht zu erwarten.

5. Die Mannschaft ist keine Mannschaft

Beim BVB gibt es mit Ausnahme von Nico Schlotterbeck keinen einzigen Spieler, der sich auf dem Platz und abseits vehement gegen den kompletten Bedeutungsverlust wehrt. Kapitän Emre Can ist ebenso wie Torhüter Gregor Kobel bemüht, steht sich mit schwankenden Leistungen aber immer wieder selbst im Weg.

Vermeintliche Leistungsträger wie Pascal Gross, Niklas Süle, Julian Brandt oder Marcel Sabitzer ducken sich weg oder hadern mit ihren Leistungen, Serhou Guirassy ist sportlich zwar einer der wenigen Lichtblick, aber für die Teamhierarchie kaum ein Faktor. Waldemar Anton wollte vorausgehen, der Innenverteidiger darf nach einer sehr vernünftigen Hinserie aktuell aber nicht mehr spielen.

Das von Kovac propagierte Leistungsprinzip greift offenbar nicht bei allen und auf jeder Position, was wiederum die Unzufriedenheit einiger Spieler deutlich sichtbar steigert und dann schon bei kleinsten Fehlern oder Abstimmungsproblemen auf dem Rasen zu offen ausgetragenen Konflikten führt.

Allerdings sind fast alle Spieler im Dortmunder Kader in der Theorie erfahren und gestanden genug, diese Randaspekte im Sinne des Erfolgs zur Seite schieben zu können. Im Praxistest aber fallen die Profis reihenweise durch.

Verwendete Quellen: