Zum Start der neuen Bundesliga-Saison hatten sich die Landesregierungen testweise auf eine Rückkehr der Fans geeinigt – und doch war das Bild am ersten Spieltag ein seltsames und sehr unterschiedliches. Hier Geisterspiel, dort über 8.000 Zuschauer: Sorgt der Flickenteppich bei der Fanrückkehr für Wettbewerbsverzerrung?
Seltsame Leere für ein Auftaktspiel. Keine Fans waren zugelassen in der Allianz Arena – und das im ersten Spiel des ersten Spieltags der neuen Bundesliga-Saison, das Bayern mit 8:0 gegen Schalke gewann.
Zuvor hatten sich die Landesregierungen auf eine Rückkehr der Fans geeinigt. Aber: Vor Ort dürfen maximal 35 Infizierte pro 100.000 Einwohner gezählt werden, in München liegt der Wert derzeit darüber. Zum nächsten Heimspiel gegen Hertha BSC kann sich das aber schon wieder geändert haben.
Währenddessen durften 10.000 Zuschauer in den Dortmunder Signal-Iduna-Park – Rekord in Zeiten von Corona. Seltsam ist der Anblick aber auch hier: Statt der Gelben Wand, der sonst proppevollen Südtribüne, sitzen die Fans verteilt, jubeln bei den drei Toren ihrer Mannschaft (der BVB gewann 3:0 gegen Gladbach) einzeln, statt sich in den Armen zu liegen.
Ein Heimteam mit Fans, das andere ohne – beide gewinnen. Aber spielten beide auch unter den gleichen Bedingungen? Oder ist es als Heimteam gerade schwieriger, ein Spiel zu gewinnen, wenn die Fans fehlen? Was für und gegen eine Wettbewerbsverzerrung spricht.
Kontra Wettbewerbsverzerrung: Die Akustik kommt kaum an
So sehr die Fans auf den Rängen pfeifen, rufen, grölen, singen: Nur ein Bruchteil der Geräuschkulisse gelangt auch zu den Spielern auf dem Platz. Einzelheiten der Gesänge sind nicht wahrnehmbar. Man könnte also sagen: Die Spieler können auch ohne Fans "im Rücken" spielen.
Das hat auch der Autor und Sportjournalist Christoph Leischwitz während der Corona-Geisterspiele beobachtet. "Die Intensität bei den Fussballern auf dem Rasen hat nicht abgenommen", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Leischwitz hat den Einfluss von Zuschauern im Stadion in seinem Buch "Die Wissenschaft des Fussballs" analysiert.
Mats Hummels sieht in Geisterspielen für einige gar die Chance, befreit spielen zu können: "Für manch einen ist die Situation jetzt sogar einfacher", sagte der BVB-Verteidiger dem "NDR".
Pro Wettbewerbsverzerrung: Der psychologische Effekt spielt mit rein
Aber: Anfeuerung von mehreren Tausend Fans, eine volle Südtribüne im Dortmunder Signal-Iduna-Park, die ohrenbetäubende Schalker Nordkurve – ganz wirkungslos sind die Besucher im Stadion nicht. Sie sorgen für eine besondere Atmosphäre, die eine psychologische und sogar eine physische Wirkung haben kann.
Nehmen die Spieler die Lautstärke auf den Rängen wahr, kann diese sogar den Kreislauf anregen, sagt Leischwitz. "Das wird von den Spielern oft als positiv wahrgenommen." Stress-Symptome durch zu laute Ränge gebe es hingegen selten.
Der weitaus grössere Einfluss ist aber der psychologische. Die vergangene Saison zeigte, dass bei Geisterspielen der vermeintliche Heimvorteil - der vor allem den Fans zugeschrieben wird - verschwindet.
An den letzten neun Spieltagen der Saison 2018/19 wurden 28 Prozent der Auswärtsspiele gewonnen. Im gleichen Zeitraum der Saison 2019/20 lag der Anteil bei 43 Prozent laut "bundesliga.de". In der vergangenen Saison gab es insgesamt 115 Auswärtssiege – so viele wie noch nie in der Bundesliga-Geschichte.
Einschnitt in die Fankultur: Was ist mit den Auswärtsfans?
Gerecht scheint die aktuelle Zuschauerregelung also nicht zu sein, aber: "Man sollte in diesen Zeiten ohnehin davon wegkommen, von 'gerecht' zu sprechen", sagt Leischwitz und meint damit alle Corona-Massnahmen, die den Alltag erschweren. "Die einzige Gerechtigkeit wäre es, gar nicht zu spielen." Beim Erfolg oder Misserfolg in der neuen Bundesliga-Saison sind die Fans nur ein Faktor von vielen.
Für die Rückkehr zur Normalität sind Fans im Stadion wichtig. Leischwitz glaubt, dass die Anhänger durch die neuen Bedingungen kreativ werden müssen, um ihre Vereine zu unterstützen. "Da wird es neue Formen geben, um die Spieler anzufeuern", sagt er.
Die bis zu 10.000 Fans im Stadion müssen Fans der Heimmannschaft sein. Für Leischwitz ist das Verbot von Auswärtsfans ein drastischer Einschnitt in die Fankultur. "Viele Menschen reisen jedes zweite Wochenende in eine andere Stadt, für sie ist das ein Ritual", sagt Leischwitz. Ein Ritual, das wegbricht in dieser neuen Normalität. Kreativität ist also gefragt – bei allen Fans, ob im Stadion oder zu Hause.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Journalist und Autor Christoph Leischwitz sowie Fakten aus seinem Buch "Die Wissenschaft des Fussballs"
- NDR.de: Der zwölfte Mann: Spielentscheider oder Einbildung?
- Bundesliga.com: Rekorde, Jubiläen, Kurioses: Die Zahlen der Saison 2019/20
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