Der FC Bayern ist stolz darauf, dass er es anders macht als viele Spitzenvereine im hektischen, manchmal irrationalen modernen Fussball. Langfristigkeit, Professionalität, "Mia san Mia". Das ist Teil des Erfolgsrezepts Bayern München. Mit dem Rauswurf von Julian Nagelsmann und der überraschenden Verpflichtung von Thomas Tuchel mitten in der Saison lässt der FC Bayern alle drei Tugenden vermissen.

Steffen Meyer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Steffen Meyer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Natürlich wird in den nächsten Stunden und Tagen viel heraussickern, was die Entscheidung rechtfertigen soll. Manches sickerte schon in der Nacht durch. Die Kabine habe Nagelsmann verloren, seine Beziehung zu einer "Bild"-Redakteurin sei eine Belastung für das Verhältnis zur Mannschaft. Sportlich seien die Ziele nach der Niederlage gegen Leverkusen gefährdet. Nagelsmanns Aussendarstellung war nicht immer souverän. Und generell habe er die Mannschaft spielerisch nicht so weitergebracht, wie man es sich erhofft hat. Manches davon ist fair. Manches nicht.

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Es steht aber eine grössere Dimension dahinter. Der FC Bayern hat sich ja sehr bewusst für Nagelsmann entschieden. Für einen Mitte 30-Jährigen, der noch nie einen Spitzenklub trainiert hat. Was hat man denn erwartet? Dass er vom ersten Tag an die taktischen Qualitäten von Pep Guardiola mit der Menschenführung von Jupp Heynckes vereint? So einen Trainer gibt es nicht.

Rausschmiss trotz Rekordablöse und Fünfjahresvertrag

Der FC Bayern hat über 20 Millionen Euro Ablöse für Nagelsmann in die Hand genommen. Ein Fünfjahresvertrag obendrauf. Es war ein Coup. Der FC Bayern hatte seinen Trainer für einen nicht ganz leichten Übergang im Kader. Langfristigkeit. Eine seltene Eigenschaft im Fussballbusiness. Eineinhalb Jahre später dreht man um, und startet von vorne. Nicht weil der Klub sportlich in eine echte Krise geschlittert ist, sondern weil es hier und da nicht passt. Das ist nicht nachvollziehbar.

Dass Nagelsmann von der Mannschaft nicht geliebt wird, ist bekannt. Seit Monaten wird darüber in München geraunt. Er spreche zu viel mit Joshua Kimmich und zu wenig mit den anderen. Er sei zu kritisch und schroff mit der eigenen Mannschaft. Er doziere zu kompliziert. Er habe die Kabine verloren, heisst es. Nagelsmann ist ein Trainer, der eine Mannschaft nervt, fordert, weiterentwickelt. Das war auch sein Auftrag. Warum sonst haben die Münchner ihn und keinen erfahrenen Kabinenflüsterer verpflichtet? Auch hier passt die Argumentation nicht zusammen.

Zudem ist klar, dass so eine Entwicklung nur möglich ist, wenn die sportliche Führung es zulässt. Eine Mannschaft hat feine Antennen dafür, ob ein Trainer die volle Rückendeckung der Vereinsführung hat oder nicht. Hat er sie nicht, fängt es schnell an zu bröckeln. Auch hier können sich die Bayern-Verantwortlichen um Vorstandschef Kahn nicht aus der Verantwortung ziehen.

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Auch sportlich gibt es bei ruhiger Betrachtung keine handfesten Gründe für einen Trainerwechsel. Nagelsmann hat die Mannschaft weiterentwickelt. Sie ist viel variabler geworden, kann inzwischen ohne Probleme zwischen Dreier- und Viererkette wechseln. Jamal Musiala ist zum Weltstar gereift. Der Abgang des besten Bundesliga-Torjägers des vergangenen Jahrzehnts wurde erstaunlich gut kompensiert. In der Champions League hat der FC Bayern eine überragende Saison gespielt. In der Bundesliga wackelte es hier und da. Manche Rotation ging schief. Das stimmt. Ist das Grund genug, um mitten in der Saison eine auf fünf Jahre angelegte Zusammenarbeit zu beenden? Eher nicht.

Auch Tuchel wird die Mannschaft sportlich herausfordern

Wäre Nagelsmann auch entlassen worden, wenn das Spiel gegen Leverkusen am Sonntag 1:1 ausgegangen wäre oder sogar mit einem Bayern-Sieg geendet hätte? Das ist schwer vorstellbar und unterstreicht die fehlende Konsistenz in dieser Entscheidung. Bricht man wirklich ein Fünfjahresprojekt ab, weil man nach zehn Meisterschaften in Folge ganz vielleicht einmal nicht ganz oben steht am Ende? Der FC Bayern sieht es offenbar so.

Nun also Thomas Tuchel. Ein Weltklassetrainer, der anders als Nagelsmann schon viele Stars gemanagt hat. Sportlich ist er über jeden Zweifel erhaben. Auch Tuchel ist ein Antreiber. Auch Tuchel nervt eine Mannschaft. Er ist ein Tüftler, ein Bessermacher. Dass eine Mannschaft nach längerer Zusammenarbeit mit ihm mit "I love Thomas" Shirts durch die Gegend läuft, ist nicht überliefert. Das sollte auch in München niemand erwarten.

Es spricht viel dafür, dass die Münchner jetzt vor allem Sorge hatten, Tuchel auf lange Zeit zu verlieren. Kontakt gibt es schon lange. Er lief seit seinem Rausschmiss bei Chelsea in den Köpfen immer als Backup-Lösung mit. Nun wurde es für Tuchel offenbar bei den Tottenham Hotspur konkreter. Auch von einem Interesse Real Madrids war öffentlich die Rede. Jetzt bot sich noch die Chance, Tuchel nach München zu locken. Wohl auch deshalb nun diese übereilte Entscheidung.

Der FC Bayern beschädigt sein Image

Ist Tuchel ein besserer Trainer als Nagelsmann? Vielleicht. Bringt er wieder mehr Ruhe in den Verein und in die Mannschaft? Wahrscheinlich. Hat der FC Bayern mit ihm in dieser Saison eine grössere Chance, Titel zu holen? Vielleicht. In einer nüchternen Abwägung kann man also sagen, dass der FC Bayern durch den Wechsel seine Ausgangslage minimal verbessert hat.

Beschädigt hat er damit aber auf absehbare Zeit das Image eines Vereins, der Dinge anders macht als der an vielen Stellen überdrehte und auf kurzfristigen Erfolg getrimmte Fussballbetrieb. Der die Hektik um ihn herum aushält, langfristig denkt und Trainern Zeit gibt, eine Mannschaft so zu formen und zu entwickeln, dass sie mit aufgepumpten All Star Teams in Paris oder Manchester mithalten kann. All das war offenbar ein Trugschluss.
Der FC Bayern hat die Nerven verloren. Vielleicht ist er doch nicht so anders, wie viele glauben.

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