Jonas Urbig wird aufgrund der Verletzung von Manuel Neuer in den nächsten Spielen für den FC Bayern München im Tor stehen. Der frühere Bayern-Torwart Lukas Raeder hat vor knapp elf Jahren Ähnliches erlebt und verrät, was in einem jungen Torwart vorgeht.

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Plötzlich steht er in der Verantwortung – früher als erwartet. Jonas Urbig, der erst Ende Januar verpflichtet wurde, gab aufgrund der Verletzung von Manuel Neuer am Mittwochabend in der Champions League gegen Bayer Leverkusen sein Debüt.

Eigentlich war der Plan, den 21-Jährigen erst ab der kommenden Saison mit gelegentlichen Einsätzen zum potenziellen Neuer-Nachfolger aufzubauen. Nun muss er bereits jetzt funktionieren. Neuer fällt wegen eines Muskelfaserrisses in der rechten Wade vermutlich bis Ende März aus.

Das bedeutet für Urbig: Er wird nicht nur in der Bundesliga, sondern auch im Champions-League-Rückspiel am Dienstagabend gegen Bayer Leverkusen zwischen den Pfosten stehen.

Vincent Kompany bleibt entspannt. "Auf Jonas Urbig möchte ich keinen grossen Druck ausüben, er hat bisher im Training und im Spiel alles gut gemacht - das soll ihm Vertrauen geben", sagt der Bayern-Trainer. "In den Spielen, die nun kommen, haben wir Vertrauen in ihn, dass er das so lösen wird wie im Training. Und wenn nicht, dann kein Stress - er hat das Talent und das Vertrauen."

Urbig ist Torwart der deutschen U21-Nationalmannschaft und gilt als eines der grössten Torwart-Talente. Das Problem ist nur: Ihm fehlt Spielpraxis. Beim Zweitligisten 1. FC Köln ging er als Nummer 1 in die Saison und stand in den ersten zehn Liga-Spielen im Tor, wurde danach aber durch den Routinier Marvin Schwäbe verdrängt. Sein letzter Startelf-Einsatz datiert vom 25. Oktober 2024.

Lukas Raeder war in einer ähnlichen Situation wie Urbig

Der frühere Torwart Lukas Raeder kann die Situation von Urbig gut nachempfinden. Er galt ebenfalls früher als grosses Torwart-Talent des FC Bayern München und war erst 20 Jahre alt, als er im April 2014 im Bundesligaspiel gegen Borussia Dortmund für den verletzten Neuer eingewechselt wurde.

"Urbig hatte gegenüber mir natürlich den Vorteil, dass er bereits einige Profispiele gemacht hat. Das war bei mir damals nicht der Fall", erzählt Raeder im Gespräch mit unserer Redaktion. "Ansonsten war es bei mir ähnlich wie jetzt bei Urbig. Manu hatte sich verletzt und der Doktor sagte, dass man kein Risiko eingehen wolle. Dadurch wurde ich unerwartet eingewechselt."

Und das vor 71.000 Zuschauern in der Allianz Arena – genauso wie Urbig gegen Leverkusen. "Ich persönlich fand das gar nicht schlecht, weil man keine Zeit zum Nachdenken hat. Und dann läuft alles automatisch ab. Man spielt eh jeden Tag im Training Fussball und hält Bälle. Vieles läuft also automatisiert."

Und was ist es für ein Gefühl, in den Tagen danach dem Startelf-Debüt entgegenzublicken? Raeder stand eine Woche später erneut in der Bundesliga gegen Eintracht Braunschweig zwischen den Pfosten. Urbig wird am Samstag (15:30 Uhr) gegen den VfL Bochum das Tor hüten.

"Ich habe das Gefühl damals sehr genossen, schliesslich möchte man im Tor stehen. Das ist bei Urbig ja dasselbe, weil er eines Tages die Nummer 1 sein möchte. Nun ist er das zumindest für die nächsten Spiele", sagt Raeder. "Ich glaube, dass Bochum für ihn ein relativ angenehmer Einstieg ist – auch wenn der eine oder andere Ball trotzdem auf das Tor kommen wird."

Mangelnde Spielpraxis ist nur in bestimmten Situationen ein Nachteil

Doch welche Rolle spielt es, ohne viel Spielpraxis plötzlich in der Verantwortung zu stehen? "Spielpraxis ist schon wichtig. Nicht unbedingt auf der Linie oder bei den Eins-gegen-Eins-Situationen, wenn man eigentlich nur reagieren muss. Es geht eher um die Aktionen, wenn der Gegner zum Beispiel einen Steckball (ein tiefer Pass des Gegners durch die Verteidigung hindurch, Anm.d.Red.) spielt und die Abstände richtig einschätzen muss", sagt Raeder.

"Auch bei Ecken und anderen Standards ist es etwas Anderes, ob man das nur vom Training kennt oder an jedem Wochenende voll reinfliegt und den Ball abwehrt. Im Training macht man das nicht ganz so."

Dennoch betrachtet Raeder die Situation von Urbig positiv: "Ich finde es für ihn nicht schlecht, dass er bereits jetzt ein paar Spiele bekommt. Selbst wenn man nach einigen Spielen feststellt, dass er noch nicht so weit ist wie Manuel – was er auch gar nicht sein kann –ist das gar nicht schlimm, weil das nicht die Zielsetzung war. Die Zielsetzung war, ihn langsam aufzubauen. Er hat nicht viel zu verlieren."

Torwart-Trainer Golz kann verstehen, dass Bayern in Urbig die Zukunft sieht

Auch der frühere Bundesliga-Torwart Richard Golz wurde einmal für eine Torwart-Ikone ins Spiel gebracht. Im Jahre 1987 ist er beim Hamburger SV, der damals noch ein Top-Verein in Europa war, für den ehemaligen Nationaltorwart Uli Stein eingewechselt worden, weil dieser im Supercup gegen Bayern München aufgrund einer Tätlichkeit vom Platz flog.

Was bedeutet es seiner Einschätzung nach für einen Torwart, ohne viel Spielpraxis plötzlich in der Verantwortung zu stehen? "Natürlich spielt es eine Rolle, ob man länger nicht gespielt hat oder über Spielpraxis verfügt. Aber es ist vor allem eine Kopfsache. Es ist das Leid eines Torhüters, dass man bei einer Einwechslung bereit sein muss, obwohl man zuvor lange nicht gespielt hat. Und das war er", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Grundsätzlich hält Golz, der unter anderem als Torwarttrainer von Hertha BSC und der Nationalmannschaft von Rumänien gearbeitet hat, sehr viel von Urbig. "Er ist ein sehr kompletter Torwart. Ich kann total verstehen, dass die Bayern ihn geholt haben. Man sieht das Talent. Er bringt alles mit, um Bundesliga-Torwart beim FC Bayern München zu werden", verrät Golz.

"Er ist gut mit dem Fuss und ist vor allem auch bei hohen Bällen mutig. Das ist auffällig, weil nur wenige diese Qualität haben. Als Torwart muss man immer abwägen, ob man in bestimmten Situationen ein Risiko eingeht. Und er ist sehr mutig. Die Bayern haben mit ihm einen guten Fang gemacht."

Über die Gesprächspartner

  • Richard Golz (Jahrgang 1968) war von 1987 bis 1998 Torwart des Hamburger SV, danach spielte er bis 2006 für den SC Freiburg und war bis 2008 Ersatztorwart bei Hannover 96. Als Torwart-Trainer war er für die 2. Mannschaft des Hamburger SV, für den Bundesligisten Hertha BSC und die Nationalmannschaft von Rumänien zuständig.
  • Lukas Raeder (Jahrgang 1993) wurde unter anderem beim FC Schalke 04 ausgebildet, stand danach von 2012 bis 2014 beim FC Bayern München unter Vertrag und absolvierte zwei Bundesligaspiele. Der Torwart war später unter anderem für Bradford City, den VfB Lübeck und den MSV Duisburg aktiv. Heute arbeitet er im Bereich Spielervermittlung und berät zudem Profis im Bereich Krankenversicherung, Absicherungen bei Verletzungen etc.

Verwendete Quellen

  • Pressekonferenz des FC Bayern München
  • Interview mit Lukas Raeder
  • Interview mit Richard Golz
Teaserbild: © IMAGO/Eibner-Pressefoto/Heike Feiner