Die U19 vom FSV Mainz 05 steht im Viertelfinale der Uefa Youth League. Volker Kersting, der Mainzer Nachwuchsleiter, spricht im Interview über die jüngsten Erfolge und die einhergehenden Herausforderungen im Nachwuchsleistungssport.
Die U19-Junioren des FSV Mainz 05 sorgen in der Youth League für Furore, sie stehen nach Siegen gegen den FC Barcelona und Manchester City im Viertelfinale. Im Mainzer Bruchwegstadion ist am Mittwoch der FC Porto zu Gast.
Mainz ist bekannt für seine erfolgreiche Nachwuchsarbeit. Wir haben uns mit Volker Kersting unterhalten, dem Direktor Nachwuchsfussball in Mainz.
Herr Kersting, Mainz 05 steht in der Youth League im Viertelfinale, nach Siegen gegen City und Barca – müssen Sie sich kneifen oder sind Sie selbst gar nicht so sehr überrascht?
Volker Kersting: Es ist eine Mischung aus beidem. Natürlich muss man sich auch mal kneifen und fragen: "Passiert das jetzt alles wirklich?" Allerdings haben wir grundsätzlich qualitativ eine sehr gute Mannschaft mit einem grossartigen Spirit, mit der vieles möglich ist. Und das ruft sie im Wettbewerb aktuell ab.
Was sind die weiteren Zutaten für den Erfolgsweg, den die U19 gerade geht?
Die Mannschaft nimmt jeden Widerstand an und will ihn überwinden. Diese Widerstandsfähigkeit zeichnet sie aus. Jeder bringt seine Stärken ein, und stellt sich in den Dienst der Mannschaft. Das ist aussergewöhnlich. Wie auch die Fans, die ebenfalls eine grosse Rolle spielen, denn die Jungs werden von der Stimmung und von der Atmosphäre getragen. Und die Spiele hier am Bruchweg erinnern natürlich an viele frühere, besondere Momente in diesem Stadion.
Mainz ist mittlerweile für gute Nachwuchsarbeit bekannt
Der "kicker" schrieb in Anlehnung an André Schürrle, Lewis Holtby und Adam Szalai von den "neuen Bruchweg Boys". Da werden bei vielen Fans Erinnerungen wach. Welche sind das bei Ihnen?
Ich glaube, dass man es nicht miteinander vergleichen kann. Damals standen die drei Jungs auch mit ihrem Torjubel für "die Bruchweg-Boys“. Heute ist es aber nicht ein Ausschnitt der Mannschaft, sondern hier steht die ganze Mannschaft, mit dem Nachwuchsleistungszentrum und dem Verein im Rücken, dafür. Das sind die Jungs vom Bruchweg.
Das Beispiel zeigt aber auch, dass es eine erfolgreiche Nachwuchsarbeit früher schon gab. Welche Philosophie steckt dahinter?
Entscheidend ist, dass der Verein vor sehr langer Zeit für sich definiert hat, dass die Nachwuchsarbeit eine tragende Säule ist, die man immer weiter stärken muss. Weil wir den Nachwuchs benötigen, um den Profibereich so zu unterstützen, dass wir die Chance haben, in der Bundesliga zu bleiben. Wir werden nie der Verein sein, der für 20, 25 Millionen Euro Spieler kaufen kann. Also müssen wir Spieler selbst ausbilden.
Wir arbeiten inhaltlich qualitativ sehr gut, versuchen innovativ zu sein, vielleicht in vielen Dingen ein bisschen vorausschauender. Aber der entscheidende Punkt ist die inhaltliche Ausbildung, gepaart mit hoher Qualität im Personalbereich. Da liegt immer der Schlüssel. Ich brauche Top-Trainer, ich brauche Top-Leute im Umfeld, die sich um die Jungs kümmern und diese entwickeln. Dazu haben wir eine sehr familiäre, offene Atmosphäre, die die Jungs und auch die Eltern schätzen.
Das hört sich alles schlüssig an, ist aber kein Selbstläufer. Wie schwierig ist es, sich immer neu zu erfinden und weiterzuentwickeln?
Das ist jeden Tag eine Herausforderung. Wir haben das Ganze sukzessive aufgebaut, stabilisiert und entwickelt. Aber es lebt von innen heraus und von den Menschen, die jeden Tag Lust haben, hierher zu kommen und ihr Bestes zu geben.
Pro Jahr soll mindestens ein Spieler den Sprung zu den Profis schaffen
In der Mannschaft spielen Torhüter Louis Babatz und Maxim Dal, die mit der U17 des DFB den WM-Titel geholt haben, dazu auch zum Beispiel Tim Müller oder Philipp Schulz. Wem trauen Sie den nachhaltigen Sprung nach oben zu?
Da sind viele spannende Jungs dabei. Deshalb möchte ich keinen wirklich herausheben, weil bei dem einen die Entwicklung ein bisschen schneller geht, beim anderen ein bisschen langsamer. Wir haben im Moment eine sehr grosse Auswahl von Top-Talenten und hoffen, dass wir das halten und noch weiter ausbauen können.
Wie viele von den Talenten schaffen denn in der Regel den Sprung in die erste Mannschaft und damit ins Profigeschäft?
Ich bin zufrieden, wenn es einer pro Jahrgang ist. Natürlich nehmen wir auch gerne mehr, keine Frage, aber das Ziel ist es, pro Jahr einen Spieler nachhaltig bei den Profis zu etablieren.
Der Grossteil schafft es umgekehrt nicht. Was geben sie denen neben der fussballerischen Ausbildung mit auf den Weg? Also wofür steht das NLZ neben dem Fussball noch?
Die Aufgabe des NLZ muss natürlich immer sein, den Spieler ganzheitlich zu betrachten. Das heisst, ihm alles mitzugeben, was er für den Sprung zu den Profis benötigt, ohne garantieren zu können, dass es dann auch reicht. Der noch wichtigere Part ist, die Schule entsprechend zu begleiten, dass er den für sich bestmöglichen Schulabschluss machen kann, weil die allermeisten ihn für ihr späteres Leben benötigen. Und natürlich geht es auch um die Persönlichkeitsentwicklung. Dass wir den Spieler stärken und ihm vermitteln, dass er viele Dinge aus dem Mannschaftssport wie Disziplin und Regeln für das Leben mitnehmen kann.
Sie sind ja jetzt schon lange dabei. Wie hat sich die Jugend über die Zeit verändert und wie herausfordernd ist sie heute?
Es ändern sich Voraussetzungen, und das ist die grosse Herausforderung, die der Sport insgesamt hat. Die Anstrengungsbereitschaft hat sicherlich etwas gelitten, weil viele Einflüsse von aussen eine deutlich grössere Rolle spielen. Jugendliche setzen sich überspitzt gesagt sehr früh mit einem zweiten oder dritten Handy auseinander, mit Social Media.
Aber der eigentliche Kern, der Fussball, die Liebe zum Sport, die Hingabe, jeden Tag alles dafür zu tun, um diese Schritte machen zu können, kann darunter leiden. Diese Bereitschaft, der Wille, die Mentalität und Selbstverständlichkeit sind essenziell und lassen aus meiner Sicht nach.
Wie kann man das anpacken?
Das ist nicht nur die Entwicklung des Sports, sondern vor allem der Gesellschaft, die uns in diese Situation bringt. Wir müssen schauen, wie wir Grundvoraussetzungen schaffen, dass wir mit den Jungs arbeiten können. Dass wir im Umgang mit Jugendlichen den Fokus wieder auf das lenken, was das Wesentliche ist. Dazu müssen alle beitragen. Nicht nur der Sportverein, auch die Eltern, das gesamte Umfeld.
Kersting plädiert für Anpassung des Schulsystems
Es heisst immer, dass Top-Talente fehlen. Für wie alarmierend halten Sie die Situation?
Wir haben Top-Talente. Sonst wären wir nicht U17-Europameister und -Weltmeister geworden. Das Wichtige ist, wie wir Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche im Sport insgesamt schaffen, um den Fokus noch mehr auf den Sport zu bekommen. Darin liegt eine grosse Chance und in Deutschland ist unser Schulsystem ein Thema, das wir anpacken müssen. Wir bauen den Leistungssport immer um alles andere herum.
Es könnte auch umgekehrt sein. Wir müssten alles andere um den Sport bauen, damit sich ein Leistungssportler überhaupt entwickeln kann. Ein Beispiel aus unserer Sicht: Unsere Jungs kommen abends zum Training, haben einen kompletten Schultag hinter sich, sind körperlich und geistig ermüdet und sollen trotzdem noch hoch aufnahmefähig und leistungsbereit sein. Eigentlich müssten die Jungs zu dem Zeitpunkt trainieren, an dem sie am aufnahmefähigsten sind. Und deswegen müssten wir ein System hinbekommen, bei dem für die Spitzensportler die Schule um diese Trainingszeiten herumgebaut wird.
Wie realistisch ist das?
Ich glaube, dass man das hinbekommen kann, beispielsweise mit einer Privatschule. Dafür braucht man dann aber Bund, Länder und finanzielle Unterstützung. Und das ist immer eine Herausforderung.
Harter Kampf um Talente
Apropos Geld: Im Nachwuchsbereich steht das bereits im Fokus. Wie hart ist der Kampf um die Talente?
Der Kampf um die Talente beginnt sehr früh. Aus finanzieller Sicht können wir da so nicht mitgehen. Wir steigen aus, sobald wir merken, dass es in die falsche Richtung geht, dass der Fokus auf einer anderen Geschichte liegt und nicht auf dem Fussball. Und wir haben natürlich nicht die finanziellen Mittel, wie das vielleicht die ganz grossen Player in Deutschland oder auch international haben.
Wie würden Sie die Situation bezeichnen? Ist das schon pervers?
International geht es um sehr hohe Summen. Da gibt es Nachwuchsspieler, die im Millionenbereich verdienen. Das ist die Realität. Das ist gerade auch in England sehr verbreitet. Und auch in Deutschland geht es in dieser Hinsicht teilweise in die falsche Richtung.
Wie schafft es dann Mainz, die Jungs für den Klub zu gewinnen?
Ein grosser Punkt ist die Durchlässigkeit. Hier schaffen es immer wieder viele Jungs, Bundesliga-Profi zu werden. Dabei profitieren die Jungs von der inhaltlichen Arbeit, die wir leisten. Und dazu kommt die familiäre, offene Atmosphäre, die immer eine Rolle spielen muss.
Wo würden Sie das Mainzer NLZ aktuell einordnen in Deutschland im Vergleich zur Konkurrenz?
Es ist immer schwierig, sich zu vergleichen, beziehungsweise auf andere zu schauen, weil wir immer gesagt haben, dass wir nicht über andere reden, sondern auf uns schauen, damit wir vorwärtskommen. Ich glaube aber, dass wir es geschafft haben, dieses Nachwuchsleistungszentrum über die Jahre in der Spitze in Deutschland zu etablieren. Da sind wir und so werden wir wahrgenommen, so wollen wir auch wahrgenommen werden, denn das steht für Mainz 05, das steht für eine nachhaltige Nachwuchsarbeit.
Kersting über Porto: "Ganz, ganz schwere Nummer"
Zurück zum Sportlichen. Jetzt geht es gegen Porto. Wenn man sich die Namen anguckt – Barca, City, da wirkt Porto ja fast schon machbar vom Namen her, aber das ist wohl eher ein Trugschluss...
Porto steht nicht umsonst im Viertelfinale. Porto hat auch nicht umsonst Alkmaar ausgeschaltet, die ich auch für eine absolute Top-Adresse in Europa halte. Porto hat Barcelona in der Gruppenphase 4:0 geschlagen. Das sagt sehr viel aus über die Qualität dieser Mannschaft.
Das wird eine ganz, ganz schwere Nummer für uns, definitiv. Das wird nur gehen, wenn in der Mannschaft wieder jeder an seine Grenze geht, jeder sein Herz auf dem Platz lässt, die Mannschaft von den Fans getragen wird. Wenn das alles wieder eintritt, dann haben wir auch eine Chance.
Für wie realistisch halten Sie das Final Four?
Ich sehe mit diesem Flow, den diese Mannschaft hat, mit dieser Mentalität, mit diesem Gen, das sie in sich trägt, eine 50:50-Chance.
Was würden Sie sich wünschen, egal wie es ausgeht, was nach dieser Saison hängenbleibt für Mainz?
Es ist immer der Wunsch, dass sich so viele Jungs wie möglich, die in dieser Mannschaft sind, den Traum vom Profi erfüllen können. Daran arbeiten wir hier jeden Tag und das ist am Ende die unsere Belohnung für alle, die dazu beigetragen haben.
Über den Gesprächspartner
- Volker Kersting kümmert sich bereits seit 1991 um den Nachwuchs beim Bundesligisten FSV Mainz 05, er war lange der Leiter des Nachwuchsleistungszentrums. Im November 2021 ist er zum Direktor Nachwuchsfussball aufgestiegen.
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